Hauptstadt und Hellersdorf

Die Straßenbahnlinie 6, die längste Berlins, pendelt zwischen der Amüsiermeile im Zentrum und den Plattenbauten an der Peripherie – und überwindet unsichtbare Grenzen  ■   Von Ralph Bollmann

st er es? Tatsächlich: Da sitzt Michael Glos, Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, bei McDonald's am Oranienburger Tor. Schließlich hat die Hamburger-Kette gerade ihre „Bayerischen Wochen“ ausgerufen – und ihre Filialen in Wirtshäuser „Zum Goldenen M“ umgewidmet. Wenn er aus dem Fenster blickt, schaut der CSU-Politiker auf einen grauen Herbsttag. Es nieselt ein wenig, und auf der Amüsiermeile Oranienburger Straße ist es jetzt, um die Mittagszeit, noch ruhig.

Bis hierher, ins nächstgelegene Stückchen Stadt, haben sich viele „Bonner“ schon vorgekämpft. Vom wahren Berlin aber wissen sie wenig. Dazu müssten sie sich schon in die Straßenbahn begeben, die sich gerade an den Fenstern des Schnellrestaurants vorbeischiebt: Linie 6, die längste Straßenbahnstrecke Berlins. 45 Stationen vom Zentrum bis an die äußerste Peripherie. Von „Schwartzkopffstraße“ bis „Hellersdorf Riesaer Straße“. Einsteigen, bitte!

Aber was heißt in Berlin schon Zentrum? Für die Straßenbahn ist die Mitte Peripherie. Denn mit einer Ausnahme enden und beginnen alle Linien dort, wo die Mauer stand. Deshalb ist die Bahn, in die Michael Glos hätte einsteigen können, noch fast menschenleer: Sie hat gerade mal drei Stationen zurückgelegt seit ihrem Start am einstigen Grenzübergang.

Leise nimmt der moderne Zug seine Fahrt auf. Rechts das Kulturzentrum Tacheles, links die Synagoge. Am Hackeschen Markt nach rechts, vor dem Roten Rathaus nach links. Die Repräsentationsmeile des Sozialismus: Fernsehturm, Alexanderplatz. Die Bahn füllt sich. Den Platz überquert sie im Schritttempo, der Fußgänger wegen. Große, leere Flächen.

Kurz darauf biegt der Zug in die Straße ein, die er bis zum Stadtrand nur für kurze Abstecher verlassen wird – die Landsberger Allee. Zu DDR-Zeiten hieß die elf Kilometer lange Autopiste Leninallee. Die Errungenschaften sozialistischen Wohnungsbaus lassen sich an ihr so umfassend studieren wie kaum irgendwo sonst.

Hinter dem einstigen Leninplatz folgen noch wenige Altbauten, aber drei Stationen später ist damit endgültig Schluss. S-Bahnhof Landsberger Allee – das ist die unsichtbare, aber scharf gezogene Grenze zwischen Zentrum und Peripherie. Fast alle Fahrgäste steigen hier aus. Die Bewohner der Innenstadtbezirke überschreiten diese Grenze nicht. Wer Szenekluft trägt – schwarze Kleidung, Sonnenbrille selbst an diesem trüben Tag –, verlässt die Bahn. Herein kommen Männer mit kurzen Haaren und Turnschuhen, Frauen mit Pony und Plateausohlen.

Hier endet die Zone alteuropäischer Urbanität, ausgerechnet im ehemaligen sowjetischen Sektor beginnt die Zone der amerikanisierten Lebensform.

Uniforme Behausungen, statt des bewährten Graus jetzt in Pastelltöne gehüllt. Die meisten Bewohner der östlichen Außenbezirke fahren morgens zur Arbeit, abends zurück. Ansonsten verlassen sie ihre Wohnung wochentags nur für Einkaufszentrum oder Fitnessstudio. Gelegenheit gibt es reichlich: Eine Shopping-Mall reiht sich an die andere. Vor allem die Umsätze mit hoch technisierten Turnschuh-Modellen laufen anscheinend gut.

Von hier an rast die Bahn auf eigener Strecke zwischen den Bezirken Lichtenberg und Hohenschönhausen, der blaue Kreis („Sie befinden sich hier“) wandert auf dem Stadtplan rasch nach Osten. Die Haltestellen haben so schöne Namen wie „Handelskomplex“.

Dann ein Anblick, der den gemeinen West-Menschen immer wieder beeindruckt: Das Hochhausgebirge von Marzahn türmt sich auf. Kompakte Blocks von mindestens zehn Stockwerken, einer am anderen, erheben sich quer zur Fahrtrichtung. Die freie Fläche davor, eine tiefer liegende Bahntrasse erhöhen noch die Wirkung.

Von nun an: große, kleine, schmale, breite Hochhäuser, kreuz und quer durcheinander gewürfelt. Am S-Bahnhof Marzahn sind die Scheiben herausgeschlagen, ein Drahtverhau ersetzt sie. Ringsum: Kaufhof, Spielothek, Kino. Danach Hellersdorf, jüngstes Neubauviertel der DDR, damals von jungen Familien bezogen. In der Straßenbahn lauter 13-, 14-, 15-Jährige. Sie waren gerade geboren, als ihre Eltern in die Plattenbauten einzogen.

Die „Helle Mitte“, das Zentrum des Bezirks: auch hier wieder Einkaufszentren. Und die alte Westberliner Fachhochschule für Sozialarbeit, vor kurzem erst zum Umzug an die Peripherie gezwungen. Noch ein paar Stationen, dann stößt die Linie 6 an die Grenze zu Brandenburg – und wendet.

In der Bahn unterhalten sich zwei 30-jährige, Mann und Frau, über Rudolf Scharpings Koch. Der habe, sagt die Frau, beim Einkauf im Teeladen bitter beklagt, dass sein Chef neuerdings Berliner Kost verlange. „Ob Scharping wohl ein schwieriger Chef ist?“, fragt der Mann zurück. „Ja“, entgegnet die Frau, „man läuft immer Gefahr, einzuschlafen.“

Michael Glos muss nicht mehr kommen. Die Hauptstadt ist in Hellersdorf längst angekommen.