Zu hoch gestapelt und tief gefallen

■ Die deutschen Turnerinnen belegen bei den Weltmeisterschaften in China nur den 15. Platz und verpassen die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Sydney

Tianjin (taz) – Nach dem 15. Platz der deutschen Turnerinnen im Teamwettbewerb bei den Weltmeisterschaften im chinesischen Tianjin versuchte Bundestrainer Dieter Koch gestern nur noch, seine Haut zu retten, und glänzte dabei nicht gerade durch psychologische Feinfühligkeit. „Die persönlichen Schwächen der Einzelnen sind wieder voll durchgebrochen, einige haben ihre Nerven nicht im Zaum“, erklärte der Teamchef, dessen Arbeitsvertrag im Dezember endet. Außerdem hätten manche zu früh „die Flügel hängen lassen“, monierte Koch. „Wir haben sehr wohl gekämpft“, hielt Mannschaftsführerin Yvonne Pioch dagegen, „aber es ist tatsächlich einiges schiefgelaufen.“

Die Bedingungen am Wettkampftag waren keineswegs ideal. Im Hotel störten Kakerlaken die Konzentration, der sich weißlich über die Industriestadt Tianjin legende Smog am Morgen war so dicht, dass die Hand vor Augen verschwand, und im ersten Durchgang sind die Kampfrichterinnen grundsätzlich geizig. Zu allem Übel hatte Deutschland bei der Auslosung für den Teamwettkampf nur Nieten, sprich: keinen Einsatz einer deutschen Kampfrichterin gezogen.

Am Samstag hatten sich die deutschen Mädchen geplagt, um noch einmal die letzten Schritte zu üben, die sie dem so lang ersehnten Ziel näher bringen sollte: Der zwölfte Platz bei diesen Weltmeisterschaften hätte die Qualifikation des Teams für die Olympischen Spiele in Sydney bedeutet und war seit Jahren als Minimalziel definiert worden. Nun darf der Deutsche Turner-Bund (DTB) als 15. auch für die Einzelkonkurrenzen nur zwei Turnerinnen melden, aber auch das, so Sportdirektor Wolfgang Willam, „müssen wir uns mit dem NOK sehr genau überlegen“.

Das nicht zuletzt aufgrund der wachsenden Bedeutung der anderen Turndisziplinen Aerobic und Trampolin arg in Bedrängnis geratene Fachgebiet Kunstturnen Frauen hat das ganze Jahr über hochgestapelt und nun wie schon bei der letzten Olympiaqualifikation 1995 in Sabae maßlos enttäuschte junge Mädchen hinterlassen. Diese saßen denn auch völlig verheult in der Pressekonferenz, zusätzlich gepiesackt durch die harsche Kritik ihres Coaches.

Dass die Turnerinnen nicht die Schuld am 15. Platz trifft, steht hingegen außer Frage. Sie sind schlichtweg das Opfer unrealistischer Vorstellungen im Deutschen Turner-Bund.

Dabei hatte alles scheinbar so gut begonnen: Eine ,,kontinuierliche Leistungssteigerung'' attestierte Koch, dessen Frau Ursula nun auch um ihren Bundeskunstturnwartin-Job bangen muss, noch kurz vor Abflug, und DTB-Präsident Jürgen Dieckert konnte im April stolz verkünden, das deutsche Frauenturnen sei von allen negativen Anschuldigungen freigesprochen. Gemeint war eine großangelegte Studie des Teams vom Kölner Biomechaniker Gert-Peter Brüggemann, die initiiert wurde, nachdem eine kanadische Untersuchung vor Jahren das Kunstturntraining der Kinder und Jugendlichen mit „Bergarbeiterjobs“ verglichen hatte. Brüggemann, Vater und insgeheimer Trainer der Turnerin Lisa Brüggemann, kommt in seiner Studie, die in ihrer Gesamtheit Ende des Jahres veröffentlicht werden soll, zu – für den DTB – weit positiveren Ergebnissen als die Kanadier, zum Beispiel, dass es im Turnen weniger Akutverletzungen gäbe als in anderen Sportarten.

Bei der Vergabe der vorderen WM-Plätze blieben Überraschungen aus. Maschinenkörper von etwa 1,30 Meter Höhe aus Rumänien waren in gewohnter Perfektion über die Geräte geflogen. Die weitaus anmutigeren Russinnen hatten wieder einmal das Nachsehen, obgleich mit der einfach wunderschönen Swetlana Schorkina und Jelena Produnowa zweifelsohne die beiden größten Persönlichkeiten der WM im Team um den Turn-Meistermacher Leonid Arkajew stehen. Den dritten Platz belegte die Ukraine vor den Turnerinnen aus dem Gastgeberland China. Sandra Schmidt