Der Schreck Britanniens ist zurück

Rechtzeitig zur Rugby-WM erreicht Neuseelands Jonah Lomu wieder Topform und verursacht beim 30:16 gegen England das übliche Chaos  ■   Aus Twickenham Clemens Martin

Der Neuseeländer Jonah Lomu ist eine Ausnahme, welche die Regel bestätigt. Er ist ein Superstar im Rugby, dieser harten, kompliziert scheinenden Sportart mit dem eiförmigen Ball, in der Individualisten nur brillieren können (und das auch nur selten), wenn sie sich der Mannschaftstaktik und dem Teamgeist völlig unterordnen. Doch vor der vierten Rugby-WM, die vor zehn Tagen in der walisischen Hauptstadt Cardiff begonnen hatte, schien es fraglich, ob Jonah Lomu beweisen kann, dass er seinen Starstatus verdient. Zuletzt hatte er sich nämlich mit der Rolle des Ersatzspielers begnügen müssen.

Es wäre den Engländern, den Erfindern des Rugby, ohne Zweifel am liebsten gewesen, wenn Lomu am Samstag in ihrem Gruppenspiel gegen die Neuseeländer über die ganzen achtzig Minuten Spieldauer dort sitzen geblieben wäre. Daraus wurde nichts. Bereits im ersten WM-Spiel der „All Blacks“ genannten Neuseeländer gegen Tonga war der 24-jährige Flügel zum Einsatz gekommen und hatte zum 45:9-Erfolg seiner Mannschaft zwei jeweils fünf Punkte zählende Tries (Versuche) beigesteuert, und am Samstag, im Schlagerspiel der Vorrunde, zeigte er beim 30:16-Erfolg der Neuseeländer erneut, warum er der Schrecken Englands ist.

Auf dem Weg zu seinem Try in der zweiten Halbzeit schob der Ferrari mit dem Gewicht eines Elefanten (1,96 Meter groß und 118 Kilogramm schwer) insgesamt fünf englische Verteidiger, die ihn stoppen wollten, wie lästige Fliegen weg. Vier Jahre zuvor, im Halbfinale der WM in Südafrika, hatte Lomu die Engländer praktisch allein besiegt. Vier Tries hatte der Flügel, der die 100 Meter schon in weniger als 10,6 Sekunden gelaufen ist, bei der 45:29-Demolierung des Gegners erzielt – und was am meisten geschmerzt hatte, war die Art und Weise, wie er mit den Gegenspielern vor einem dieser Versuche umgegangen war. Vier Engländer hatten versucht, ihn zu Fall zu bringen, doch Lomu war über sie hinweg gerannt, als würde er seine Füße auf einer Matte abtreten.

Der Vergleich mit Ferrari und Elefant ist aber auch in anderer Hinsicht angebracht. Lomus Haut ist so dünn wie die des grauen Rüsseltiers und sein Köper so störungsanfällig wie der Wagen von Formel-1-Fahrer Michael Schumacher. Nach der WM vor vier Jahren schien Lomu die Rugby-Welt zu Füßen zu liegen, vor allem in Neuseeland, wo Rugby-Nationalspieler Halbgötter sind. Wegen einer Nierenkrankheit (Nephrotisches Syndrom) schien seine Karriere dann aber frühzeitig beendet. Zwei Jahre fiel er aus, und beim Kampf, Form und Fitness zurückzugewinnen, warfen ihn Verletzungen ständig zurück.

Seit einem Jahr hat Jonah Lomu nun zu alter Stärke zurückgewonnen, doch er hatte sie für die All Blacks nur beschränkt anwenden können. Trainer John Hart hatte ihn in den letzten Spielen, wie etwa beim Tri-Nationen-Turnier mit den beiden anderen bisherigen Weltmeistern Australien und Südafrika, jeweils zu Beginn auf der Ersatzbank gelassen. Lomu spielte aber immerhin die letzten zwanzig Minuten, wenn des Gegners Verteidiger müde wurden – und dann richtete er Chaos an. Dass die All Blacks sich so etwas leisten konnten, zeigt ihre Stärke und warum sie Favorit sind, zum zweiten Mal nach 1987, als sie die erste Austragung gewonnen hatten, wieder Weltmeister zu werden.

Mit der Rolle des Edelreservisten war Lomu keineswegs zufrieden gewesen. Sein Agent in Neuseeland hatte vor der WM angedeutet, dass der Star, wenn er keinen festen Platz bei den All Blacks mehr hätte, entweder für ein anderes Land spielen würde (was im Rugby nicht allzu schwer ist) oder zur Konkurrenz Rugby League wechseln würde, wo er sehr viel Geld verdienen könnte.

Doch Jonah Lomu wird weder Nationalteam noch Rugby Union verlassen. Die All Blacks haben ihn aus den Slums herausgezogen, dafür gesorgt, dass er nicht, wie einige seiner Freunde, in Drogenkriminalität absank, und ihn zum Millionär werden lassen. „Ich verdanke Rugby alles. Ohne diesen Sport würde ich vielleicht nicht mehr leben“, hat er einmal in einem Interview erklärt. Also spielt er – zum Schrecken Englands – weiter für die All Blacks.