Artilleriegeschosse zu Sushi-Messern

Auf der taiwanischen Insel Kinmen, in Sichtweite zur Volksrepublik China, begegnen Taiwans Militärexperten den ständigen Invasionsdrohungen aus Peking mit aktuellen Pophits und demonstrativer Gelassenheit  ■   Aus Kinmen Sven Hansen

Goldener Sandstrand, leise glucksende Wellen, abgerundete Klippen: Die halbkreisförmige Bucht sieht von weitem idyllisch und einladend aus. Aber nur auf den ersten Blick. Denn bei genauem Hinsehen fällt auf, dass in Ufernähe Eisenträger aus dem Wasser ragen, die vor Landungsbooten schützen sollen. Und die Klippen sind mit einbetonierten Glasscherben gespickt, hinter dem Strand wartet Stacheldraht.

Auf einer windigen Anhöhe am Ende der Bucht wacht der Soldat Wang Wie-min mit Helm und Gewehr in einem Unterstand. Neben ihm steht ein Suchscheinwerfer, zu seinen Füßen führt eine Treppe in ein Labyrinth von Bunkern. Der junge taiwanische Rekrut blickt auf die in einigen hundert Metern Entfernung schaukelnden Fischerboote, die kleine Insel gegenüber und das dahinter liegende Festland. Sie alle gehören zur Volksrepublik China.

Einsatzbereit in höchstens drei Minuten

„Hier war es die letzten Monate völlig ruhig,“ sagt Rekrut Wang und macht ein Gesicht, als verstehe er die Frage nicht. Seit Taiwans Präsident Lee Teng-hui am 9. Juli die Beziehungen der Insel zur Volksrepublik erstmals als „zwischenstaatlich“ bezeichnet hatte, verging kaum ein Tag, ohne dass Peking damit drohte, das als „abtrünnige Provinz“ bezeichnete Taiwan mit Waffengewalt zurückzuerobern. Die Medien in China und der Sonderzone Hongkong berichteten fast täglich von Manövern und Teilmobilisierungen zur gewaltsamen Wiedervereinigung Taiwans mit China. „Nein, es gab wirklich keine besonderen Vorkommnisse – weder hier noch auf der anderen Seite“, versichert Wang auf Nachfragen.

Er bildet hier am Masan-Observatorium auf der Insel Kinmen Taiwans letzten Außenposten vor dem chinesischen Festland. Während die Küste der Insel Taiwan zweihundert Kilometer entfernt ist, sind es weniger als zwei Kilometer zum gegenüberliegenden Ufer der Volksrepublik. Sollte die Volksbefreiungsarmee Taiwan angreifen, wären Kinmen und die nördlich gelegene Inselgruppe Matsu das erste Ziel.

„Kinmen ist ein Symbol“, erklärt der Presseoffizier Lee Dar-lung vom Verteidigungsministerium aus Taipeh. Die Volksbefreiungsarmee sei noch zu schwach, um Taiwan zu erobern. Wollte sie aber den Taiwanern eine Lektion erteilen, könnte sie versuchen, Kinmen oder eine der dazugehörigen elf kleinen Inseln zu erobern.

In Kinmen, das früher Quemoy genannt wurde, ist die militärische Bedrohung der Volksrepublik so allgegenwärtig, dass sie kaum noch wahrgenommen wird. „Wir müssen in höchstens drei Minuten einsatzbereit sein“, erklärt der wachhabende Rekrut die Anordnung für die hier stationierten 20.000 taiwanischen Soldaten. „Wir sind immer im Alarmzustand.“

Plötzlich ertönt laute Musik. Es ist 14 Uhr, die nachmittägliche Propaganda beginnt. Aus vierzig in einem Turm einbetonierten Lautsprechern dröhnt ein taiwanischer Popsong mit dem englischen Refrain „Free night, I want to get high“. Das Studio liegt zweihundert Meter weiter in einem Bunker unter einem Erdwall. Hinter einer Glasscheibe sitzt zwischen Mikrofonen, CD-Playern und Kassettenrekordern eine junge Frau im Kampfanzug an einem abgewetzten grauen Metalltisch und legt Musik auf. Hinter ihr hängt die rote taiwanische Fahne mit der weißen Sonne auf blauem Grund, neben ihr steht ein Regal mit CDs und Kassetten. „Wir sind softer geworden. Wir spielen jetzt Pop statt klassische Propaganda, die war zu hart“, erklärt Xu Ming-zhi. Der Leutnant der Abteilung für politische Kriegsführung sagt, damit solle eine Stimmung der Entspannung geschaffen werden: „Wir wollen, dass die andere Seite relaxed.“ Auch wenn Taiwans Präsident eine wichtige Rede hält, würde die nicht mehr übertragen. Gespielt werden stattdessen aktuelle Hits aus Taiwan, Hongkong oder auch aus dem Westen – montags bis samstags von 8 bis 11 und von 14 bis 18 Uhr. Unterbrochen wird die Musik nur einmal vor- und nachmittags von einem zehnminütigen Wetterbericht für die Fischer. Einer Karte im Vorraum zeigt den Schallkegel der vier Lautsprecheranlagen, die angeblich bis zu 25 Kilometer in das chinesische Festland hineinreichen.

„Sollte es zu ernsthaften Spannungen kommen, können wir natürlich jederzeit zur alten Propaganda zurückkehren“, erklärt der ältere Major Li, der von der Popmusik nicht überzeugt zu sein scheint. Aber bei den jüngsten Spannungen nach den Äußerungen von Präsident Lee sei das nicht geschehen. „Unser Programm wurde nicht geändert“, bestätigt Leutnant Xu. Musik vom Festland werde nicht gespielt. „Die Musikauswahl trifft ein hoher Offizier“, so Xu. Während die Gegenseite die Beschallung mit Propaganda schon vor einigen Jahren eingestellt habe, bedauert Xu, dass er keine Reaktionen und Hörerbriefe vom Festland bekomme. In Anspielung auf den Refrain „Free night, I want to get high“, verweist Presseoffizier Lee darauf, dass solche Musik hier noch vor zehn Jahren undenkbar gewesen wäre. Kinmen und seine 51.000 zivilen Einwohner standen bis Ende 1992 unter Kriegsrecht.

Die 150 Quadratkilometer große Insel ist festungsartig ausgebaut. Während es noch viele Häuser im traditionellen chinesischen Baustil mit geschwungenen Ziegeldächern gibt, ist der Boden durchzogen von einem System unterirdischer Bunkeranlagen. Die Mais- und Hirsefelder sind voller angespitzter Betonpfähle, die feindliche Fallschirmspringer aufspießen sollen. An einer Straßenkreuzung steht in der Mitte eines Kreisverkehrs ein runder Turm mit Schießscharten und geflecktem Tarnanstrich. Drauf hantieren drei Soldaten hinter Sandsäcken an einem Flakgeschütz.

„Es gab hier in Kinmen in den vergangenen fünfzig Jahren fünf Schlachten zwischen China und Taiwan. Zwei waren Invasionsversuche des Festlands, die anderen Artillerieangriffe“, sagt der Landrat von Kinmen, Chen Shui-Tsai. „Wir hoffen, dass es keinen Krieg mehr geben wird. Aber wenn, dann haben wir keine Angst, weil wir damit so viel Erfahrung haben.“

Das nahe der Stadt Xiamen gelegene Kinmen gehört eigentlich zur chinesischen Provinz Fujian. Doch als die von den Kommunisten geschlagenen Truppen Chiang Kai-sheks im Oktober 1949, kurz nach der Gründung der Volksrepublik China, nach Taiwan flohen, errangen sie bei der Schlacht um Kinmen noch einen psychologisch wichtigen Sieg. Seitdem gehört die Insel zu Taiwan. Kinmens Bevölkerung ist überwiegend konservativ und befürwortet im Unterschied zur Mehrheit der Taiwaner die Wiedervereinigung mit China.

Der Schmuggel mit dem Festland blüht

Die am gestrigen Nationalfeiertag von Präsident Lee Teng-hui wiederholte Äußerung, dass China und Taiwan zwei verschiedene Staaten seien, sei richtig und eine nötige Klarstellung gewesen, sagt Landrat Chen. Ob ihm die in Peking bei der Militärparade am 1. Oktober gezeigten Waffen Sorgen bereiten? Chen wehrt ab: „Was gezeigt wurde, war für Kinmen nichts Neues. Neu waren nur die Raketen. Aber die zielen auf die Insel Taiwan und nicht auf Kinmen. Uns beunruhigt hier nichts.“

1958 hatte die Volksbefreiungsarmee begonnen, Kinmen mit Artillerie zu beschießen. Taiwans Truppen schossen zurück. Nach 44 Tagen Dauerbeschuss sollen in Kinmen 474.000 Geschosse eingeschlagen sein. Anschließend einigten sich beide Seite darauf, dass montags, mittwochs und freitags Taiwans Truppen schießen und dienstags, donnerstags und samstags die Volksbefreiungsarmee. Sonntags war Ruhetag. Als die Artillerieduelle 1978 endeten, waren auf taiwanischer Seite 584 Soldaten gefallen. Die Todeszahl auf dem Festland ist nicht bekannt.

„Wir haben in Kinmen keine Angst vor dem Festland. Wer hier lebt, hat sich an die Drohungen gewöhnt“, sagt die Lehrerin Mia Wang. Die 24-Jährige beklagt eine Abwanderung der jungen Generation auf die Insel Taiwan. Landrat Chen räumt ein, dass bisher kaum Betriebe mit günstigen Bodenpreisen angelockt werden konnten. „Wer investiert schon in ein potenzielles Schlachtfeld?“, sagt er achselzuckend. Kinmen wird zu 40 Prozent subventioniert. Chens Amtszimmer schmückt ein Regal bunter Flaschen mit Kaoliang, dem lokalen Hirseschnaps und der bekanntesten Spezialität der Insel.

Kinmens Bevölkerung profitiert vom Schmuggel mit dem Festland. Lehrerin Wang berichtet, dass ihr Vater als Fischer Geld mit dem Schmuggel verdiene. Für Kinmens Fischer sei es lukrativer, den Fisch ihrer Kollegen vom Festland aufzukaufen und in Kinmen weiterzuverkaufen, als ihn selbst mühsam zu fangen. Ähnliches gilt für das Fleisch der Bauern. Landrat Chen macht die Behörden der Volksrepublik für den Schmuggel verantwortlich. Doch Lehrerin Wang sagt, die Schmuggler kämen alle aus Kinmen und hätten nur geringe Strafen zu befürchten.

Auch Wu Tzeng Donq hat eine lukrative Einnahmequelle entdeckt. Er nutzt den überall in Kinmen herumliegenden Schrott der über eine Million hier eingeschlagenen Artilleriegeschosse aus der Volksrepublik als Rohstoff. Wu kauft die massiven Metallhülsen für 20 US-Dollar pro Stück auf. Mit einem Brenner schneidet der 42-jährige Schmied in seiner Werkstatt verrostete Geschosshülsen in jeweils 60 kleine Metallstreifen. Er erhitzt sie in einem Holzkohle-Feuer und formt das glühende Metall dann in mehreren Arbeitsgängen mit einem mechanischen Hammer auf einem Amboss. Anschließend schleift, schärft und poliert er es. „Der Stahl der Propagandageschosse ist leichter zu verarbeiten“, sagt Wu. In zehn Minuten macht er aus einem rostigem Stück Schrott ein glänzendes Messer von hoher Qualität. „Vergangenes Jahr haben wir 50.000 Messer, Äxte, Hacken und Macheten produziert“, sagt er stolz. Seit Kinmen für den Tourismus geöffnet wurde, fertigt Wu für japanische Touristen auch spezielle Sushi-Messer. Über Materialnachschub macht er sich auch ohne neue Gefechte keine Sorgen.

In einem unterirdischen Gefechtsstand beim Masan-Observatorium blickt der Gefreite Ling Shi-zong auf einen Überwachsungsbildschirm, der Chinas nahe Küste zeigt. Per Knopfdruck zoomt die Beobachtungskamera zwei harmlos aussehende Strandklippen heran. „Hinter diesem Felsen ist ein Bunker“, sagt Ling und zeigt auf zwei versteckte Schießscharten. Anschließend schwenkt die Kamera zu einem Dorf. „Diese Fabriken gehören Investoren aus Taiwan“, erklärt er. „Und diesen Aussichtsturm hat die Volksbefreiungsarmee für Touristen aus Taiwan gebaut. Die müssen zehn Dollar zahlen, wenn sie von dort nach Kinmen schauen wollen.“