Stars 2000 in der Wahlkampfmanege

■ In der Volksbühne wurde die Dokumentation „Scheitern als Chance“ vorgestellt

Zur Zeit ist Christoph Schlingensief mit seinem Ensemble auf der Suche nach Deutschland. Skandale gab es natürlich auch wieder reichlich. Dass nicht nur der Beatles-Interpret Klaus Beyer, sondern auch Horst Mahler, ein Neonazi mit Schutztruppe und der Bubis-Grab-Schänder Meir Mendelsohn mit dabei waren, hatte für Unmut gesorgt. Auch wenn das Pubikum bei der Vorstellung in Hamburg per Abstimmung entschieden hatte, dass es sich bei Mendelsohn mitnichten um Mendelsohn handele, sondern um einen älteren Castorf-Schauspieler.

Am Sonntag hatte die Schlingensief-Gruppe Tourneepause – vor dem letzten Auftritt in Kassel am Dienstag – und schaute sich mit anderen Interessierten in der Volksbühne „Scheitern als Chance“ an – einen vom ZDF produzierten Film, der die Chance-2000-Aktivitäten des letzten Jahres dokumentierte. Komisch, wenn man so am Wahltag zurückdenkt an das Halbjahr vor der letzten Bundestagswahl. An die wilden Aktivitäten von Chance 2000, der performativen Konzeptkunstpartei, die sich von Kunst und Theater hatte verabschieden wollen. An die irrsinnige Textproduktion, die die Wunschmaschine in Gang gesetzt hatte. An die Enttäuschungen, Zerwürfnisse, die sich mit dem Projekt verknüpft hatten. An die schönen Slogans – „Beweise, daß es dich gibt“, „Wähle dich selbst“, „Macht Fehler!“ An die emphatische Parteihymne – „Freund, Freund, Freund!“ An Werner Brecht, Achim von Paczensky und Axel Silber. Und nicht zuletzt an den Kanzlerkandidaten, der im Prenzlauer Berg schließlich 25 Stimmen bekommen hatte.

Dies alles kommt einem vor wie ganz lange her. In anderthalb Stunden erzählt der Film von Alexander Grasseck und Stefan Corinth die Parteigeschichte und reiht die prominenten „Pleiten mit Herz“ aneinander: von der Auftaktveranstaltung und Gründung im Zirkus Sperlich, der hastigen Parteispaltung und Wiedervereinigung, Parteischulung mit Übernachtung und Abendunterhaltung im „Hotel-Prora“-Projekt, TV-Auftritten von Schlingensief bei Bio oder Sabine Christiansen, Demos mit glücklichen Arbeitslosen, Wahlkampfshows mit Anfassen, dem großen Bad im Wolfgangsee und der Abschlussveranstaltung am Wahltag im September. Damals war's, im alten Berlin, als Christoph um Punkt sechs das Kabel zur TV-Projektion in der Volksbühne zerhackte. Danach waren wir befreit.

Als Anteil nehmender Sympathisant wurde man wehmütig beim Gucken – noch mal die behinderten Stars des Schlingensiefschen Wahlkampfzirkusses mit ihren schönen Liedern (Helga Stövhase!) und wahren Reden. Die Interviewinszenierungen in kargen Zimmern mit den Aktivisten. Bernhard Schütz, Martin Wuttke, Carl Hegemann spielten mit der Wahrhaftigkeit geschlagener existenzialistischer Terroristen. Biolek deutete an, er sei in Schlingensief verliebt gewesen.

Man wünschte sich, dabei gewesen zu sein. Das war das Unangenehme an der ZDF-Produktion; die durchgehende Leierkastenmelodie des Films sentimentalisierte das alles, machte es rund, schob es ins längst Vergangene, ignorierte das produktiv-pervers sektenhafte Element von Chance 2000, kleisterte die Brüche, Fehler, Zerwürfnisse zu, die das Projekt am Laufen gehalten hatten. Irgendwie war das doch ein bisschen anders gewesen – man hatte doch selber auch teilnehmend zugeschaut.

In der letzten Szene sangen noch einmal alle die Chance-2000-Hymne. In echt sang am Dienstag kein Zuschauer mit. Das schönste Chance-Lied – „Wir wollen trauern!“ – war leider nicht dabei. Detlef Kuhlbrodt