Damit aus Schülern nicht Randalierer werden

Von Toulouse bis Rouen protestieren französische Schüler wieder gegen ihre heruntergekommenen Lehranstalten. In Paris beenden jene den Aufstand, die ihre Lektion in den Schulen der Hoffnungslosigkeit gelernt haben: Plünderer und Polizei    ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Anais (16) demonstriert, weil ihre Stunden in Sozialmedizin seit Wochen ausfallen. Tiago (15), weil er keinen Handelslehrer hat. Aude (17), weil sich in ihrem Klassenzimmer 40 Schüler drängen. Marie (15), weil es in ihrer Schule durch das Dach regnet. Hocein (16), weil er neun Leerstunden in der Woche hat. Und Audrey (17), weil sie in ihrer Schule weder Nasenring noch Turnschuhe tragen darf.

Die jungen Leute sind aus verschiedenen Quartiers und verschiedenen Schulen der Pariser Banlieue dem Aufruf zum zweiten nationalen Aktionstag der Schüler gefolgt. Die Zusammensetzung ihres Zuges erinnert ein wenig an jenen lang zurückliegenden Abend im Juni 1998, als die multikulturelle Vorstadtjugend den Sieg „ihrer“ vielsprachigen französischen Equipe bei der Fußballweltmeisterschaft feierte.

Für die Schüler ist dies die erste Demonstration ihres Lebens. Im letzten Jahr, als schon einmal eine Schülerbewegung den Erziehungsminister Claude Allègre gegen die Wand getrieben hat, waren sie noch zu jung.

Jetzt sind sie auf dem Lycée. Die meisten von ihnen werden kein allgemeines Abitur machen, sondern einen beruflich-fachlichen Abschluss. Für sie ist es die letzte Etappe vor dem Berufsleben. Vielleicht auch die letzte Chance, auszugleichen, was ihnen das Leben bislang versagt hat.

Die Jungdemonstranten haben keine zentrale Forderung, keine nationale Kampagnenleitung und sind politisch fast alle unorganisiert. Ihre Forderungen entsprechen den ganz unterschiedlichen Umständen ihrer Schulen. Aber sie haben einen gemeinsamen Nenner: „mehr Material“ und „mehr Personal“. Von Demokratie, der Gesellschaft und all den anderen Dingen, die frühere Schüler- und Studentenbewegungen beschäftigten, ist bei ihnen keine Rede.

„Wie soll ich nächstes Jahr die Prüfung in Sozialmedizin schaffen, meinem wichtigsten Fach, wenn ich jetzt seit Wochen keinen Unterricht darin bekomme?“, rätselt Anais. Für Tiago, bei dessen Abschluss „Handel“ mehr zählt als alle anderen Fächer, hat dasselbe Problem. Audrey, die mit einem glitzernden blauen Schmuckstückchen in der Nase zu der Demo gekommen ist, hat die Sorge, dass sie eines Tages wegen ihrer Piercings vom Unterricht ausgeschlossen wird.

Dieser Tag soll für die Schüler ein „Test“ ihrer Bewegung werden. Die beiden nationalen Schülerorganisationen (FIDL und UNL) und die vielen autonomen lokalen Schülergruppen haben prognostiziert, dass diese Demonstration „noch stärker“ werden würde als eine Woche zuvor. Da waren an die 160.000 Schüler in ganz Frankreich auf die Straße gegangen. Sie wollen dem Erziehungsminister Allègre zeigen, dass sie sich nicht mit halben Reformen abspeisen lassen.

In Besançon in Ostfrankreich sind an diesem Tag schon Demonstranten mit dem Spruchband „Berufsschulen sind keine Mülleimer“ durch die Stadt gezogen. In Toulouse haben Schüler des Lycée Charles-de-Gaulle „Anarchie à Charly“ skandiert. In Marseille hab sie sich weiße Binden mit der Aufschrift „Lycéens en colère“ – Schüler in Wut – um den Kopf gewickelt. Und in der normannischen Stadt Rouen sind mit 3.000 Schülern glatt doppelt so viele Demonstranten unterwegs wie eine Woche zuvor beim ersten nationalen Aktionstag dieses Jahres.

Berufsschulen dürfen keine Mülleimer sein

Aber in Paris, das bis zu diesem Donnerstag fast nichts von der Schülerbewegung gespürt hat, die wie schon im Vorjahr in der südlichen Provinz begann, ist wieder einmal alles anders. Zwar haben sich am frühen Nachmittag an die 10.000 junge Leute auf der Pariser Place de l'Italie versammelt. Doch die Stimmung war angespannt. Flugblätter gab es kaum. Transparente nur wenige. Und die Ordnerdienste, die mehrere Gewerkschaften freundlich zur Verfügung gestellt hatten, waren von vornherein überfordert.

Denn neben den Demonstranten sind tausende von Banlieuzards mit ganz anderen Absichten gekommen. Sie wollen nicht ihre Lycées verteidigen. Sie suchen auch keine direkte Auseinandersetzung mit der in Kampfmontur angerückten Polizei.

Auf halber Strecke schon zerfasert die Demonstration. Die ersten Autos stürzen um. Schaufenster gehen zu Bruch. Auslagen werden geplündert. Gruppen von Jugendlichen, mit tief in die Stirn gezogenen Kapuzen und quer übers Gesicht gespannten Halstüchern, machen sich neben, in und hinter der Demonstration zu schaffen. Die zahlreich anwesende Polizei interveniert jedes Mal zu spät. Dann aber knüppelt sie brutal auf einzelne ein.

Auf der Höhe der Bastille geben die Organisatoren auf. Manche mit Tränen in den Augen. Olivia Jean, die 19jährige Präsidentin der Studentenorganisation FIDL, sagt den Journalisten den druckreifen Satz: „Genau deshalb verlangen wir Schulmittel: damit die Jugendlichen nicht zu Randalierern werden.“

Wenig später stehen sich auf der Place de la République übriggebliebene Demonstranten, Vermummte und mit Helmen, Schildern und Tränengas bewehrte Polizisten gegenüber. Mitten in der beängstigenden Stille auf dem Platz sind sich Anais, Tiago, Aude, Marie, Hocein und Audrey, die sich vorher gar nicht kannten, zusammengerückt. Ratlos schauen sie um sich.

„Es gab viel zu viel Randale“, sagt Audrey. Als hätte sie ihr Leben lang demonstriert, führt Marie den Satz fort: „Bei so viel Bullerei ist das kein Wunder.“

Abends flimmern die Bilder von dem Bruch und den 40 Festnahmen bei der Pariser Demonstration in die französischen Wohnzimmer. Sprecher der Schülerbewegung kündigen an, dass sie am 14. Oktober, dem nächsten Donnerstag, einen neuen Aktionstag vorhaben. Aber welche Eltern werden ihre Kinder unter solchen Umständen demonstrieren lassen?