Moral und Macht und Muppet-Show

■  Erste öffentliche Rechtfertigung des Indiskreten: Oskar Lafontaines Auftritt in der Talkshow „Sabine Christiansen“ war ein ungemein spannender sozialdemokratischer Einakter. Nur die Moderatorin war überflüssig

Still war es, so still wie im Theater. Kaum einmal Applaus, dafür ein konzentriertes Studiopublikum. Das ist ungewöhnlich für eine Fernsehtalkshow, in der ein besinnunglos klatschwütiges Auditorium zum Standard gehört. Aber dies war etwas anderes: Oskar Lafontaines erster Auftritt nach langem Schweigen. Eine Art öffentlicher Rechtfertigung, Einblick in die Abgründe sozialdemokratischen Seelenlebens und politische Polemik von Format.

Links saßen die Ankläger, Richter, Verteidiger in wechselnden Rollen: Peter Glotz, Egon Bahr und Heiner Geißler, in der Mitte Sabine Christiansen, die noch nie so überflüssig war, rechts Oskar Lafontaine, mal Angeklagter, mal Zeuge.

Egon Bahr, diplomatisch im Ton und schneidend intelligent wie immer, formulierte das vernichtende Urteil: Man gehe als Sozialdemokrat nicht einfach so von der Fahne. Ohne vorher mit „den Freunden“ (Bahr) darüber zu reden. Und später öffentlich zu schreiben, was unter vier Augen gesagt wurde. Er verpackte dieses Verdikt in freundliche Worte für den Delinquenten. Aber die Botschaft kam an. Lafontaine verstand, knetete seine Finger und schwieg.

Einfach gehen? Das tun nur die hedonistischen Enkel

So wie Bahr mit Lafontaine – so redet ein Vater mit dem missratenen Sohn, dem es nicht an Talent, aber an Disziplin mangelt. Ein Hauch von Kritik und Selbstkritik war da zu spüren. Bahr verkörperte jenes proletarische Ethos, nach dem man sich in der Partei viel erlauben kann, aber eines nicht: einfach zu gehen. 1974, als Willy Brandt zurücktrat, da hat Bahr in aller Öffentlichkeit geweint. Damals mag er ähnlich verletzt gewesen sein. Aber einfach gehen, das Ich über das Wir stellen? Das tun nur die hedonistischen, verzogenen Enkel. Und Lafontaine saß da wie ein nervöser Schüler, der schon ahnt , dass er wieder eine Fünf geschrieben hat.

Lafontaine zur Hilfe kam Heiner Geißler, der den missratenen Sozi-Sohn mit einer Frage aus Bahrs väterlicher Moralumklammerung befreite: Warum er denn auch als Parteivorsitzender zurückgetreten sei? Darauf ließ sich antworten. Allmählich lockerte sich die Tribunalatmosphäre. Die drei Ankläger verwandelten sich mehr und mehr in relaxte Verteidiger. Klar, dies und jenes in Lafontianes Buch sei etwas indiskret, aber ein Skandal? „Das weiß doch sowieso jeder, dass es in der Politik genauso zugeht wie in einer Seifenoper“, meinte Peter Glotz. Und Geißler kalauerte: „Aber bei uns gibt's weniger Seife.“ Manchmal erinnerten die drei an die beiden knorrigen Alten in der Muppet-Show, Waldorf und Statler, die die Inszenierung „Lafontaine gegen die Partei“ mit manchmal galliger, manchmal lebenskluger Ironie kommentierten.

Der Name Schröder kam ihm nicht über die Lippen

Nur Sabine Christiansen versuchte sich immer wieder in küchenpsychologischen Spekulationen über Lafontaines Gemütsverfassung. So brauchte Oskar Lafontaine 41 Minuten, um endlich sagen zu dürfen, um was es ihm geht: nicht Klatsch und Verrat, sondern Politik. Dass in Frankreich der Traditionalist Jospin regiert und trotzdem die Wirtschaft boomt. Dass die Alternative nicht Sozialstaat oder Modernisierung heißt, sondern dass es darum geht, beides zu verbinden. Gerade für die Sozialdemokraten. Und dass „der Bundeskanzler“ (Lafontaine) dies versäumt. Der Name Schröder kam ihm nicht über die Lippen.

Normalerweise sieht Politik im TV so aus: vorfahrende Karossen, eilige Politiker, nichts sagende Pressekonferenzen. Diese Sendung öffnete einen anderen Blick.

Auf eine etwas umwegige Art mag Lafontaines Auftritt als Mittel gegen die grassierende Politikverdrossenheit wirken. Denn er zeigt, dass es noch politische Leidenschaften gibt. Dass Politik nicht bloß Verwaltung und Sachzwang ist. Sondern manchmal Soap-Opera, manchmal Shakespeare. Stefan Reinecke