Herumirrende Flüchtlinge

Unter den geflohenen Tschetschenen kursieren Gerüchte, die sie misstrauisch gegenüber Hilfe machen  ■   Von Barbara Kerneck

Moskau (taz) – Die seit dem 5. September fortgesetzten russischen Bombardements in Tschetschenien haben im benachbarten Zwergstaat Inguschetien zu einer humanitären Flüchtlingskatastrophe geführt. Von 120.000 Flüchtlingen spricht die inguschetische Führung. Nicht klar ist, ob dies auch jene 42.000 einschließt, die bereits im Zuge des vorigen russisch-tschetschenischen Krieges 1994 bis 1996 dorthin flohen. Tschetschenen und Inguschen sind eng verwandte Völker.

Längst nicht alle tschetschenischen Flüchtlinge haben sich in den inguschetischen Flüchtlingslagern gemeldet. Viele nomadisieren in Personenwagen durch das Ländchen, wobei sie das Gerücht verbreiten, die Russen bereiteten einen neuen „Völkermord“ an Tschetschenen und Inguschen vor.

Schon die Kaukasusfeldzüge zur Zarenzeit im 19. Jahrhundert trugen Züge einer Ausrottungskampagne. Eindeutig Genozid-Absichten verfolgte die von Stalin angeordnete Deportation der Tschetschenen und Inguschen nach Mittelasien, vor allem nach Kasachstan 1943/44. Alte, Kranke und Kinder starben auf den Transporten in Viehwaggons ohne Verpflegung und Wasser. Viele kamen in den Zielländern um.

Deshalb weigerten sich letzte Woche tschetschenische Flüchtlinge, in ein Lager aus etwa hundert alten Eisenbahnwaggons einzuziehen, das man in Inguschetien für sie provisorisch errichtet hatte. Sie befürchteten, erneut deportiert zu werden. Während viele der Flüchtlinge an Infektionskrankheiten, vor allem Tuberkulose, leiden, entziehen sie sich auch der Hilfe der Ärzte, die das russische Ministeriums für Extremsituationen vor Ort einsetzt. Es geht das Gerücht um, die Russen wollten alle Tschetschenen sterilisieren.

Anfang der 90er-Jahre hatte die tschetschenische Bevölkerung zwischen 900.000 und einer Million Menschen betragen. Schätzungsweise 120.000 Menschen waren während des letzten russisch-tschtschenischen Krieges 1994 bis 1996 umgekommen. Die russische Regierung hat die Flüchtlinge bisher daran gehindert, aus Inguschetien weiterzuziehen, weil sie befürchtet, dass sich Terroristen unter ihnen befinden könnten. Am Wochenende wurde erstmals ein Plan geprüft, sie dennoch in anderen Regionen unterzubringen. Jeweils einige tausend Flüchtlinge, vorwiegend ethnische Russen und Ukrainer, konnten in Nordossetien und in der südrussischen Region Stawropol unterkommen. Menschen aus dagestanischen Familien wurden über die dortige Grenze gelassen. Georgien hat einige hundert aufgenommen, die ursprünglich dort beheimatet waren.

Inguschetiens Präsident Ruslan Auschew warnt, dass die Situation außer Kontrolle geraten könnte. Als einzigen Ausweg empfiehlt er ein Treffen zwischen Tschetscheniens Präsidenten Aslan Maschadow und Präsident Boris Jelzin.

Maschadow legte am Sonntag einen Friedensplan vor. Er forderte Russland auf, die Kampfhandlungen einzustellen, seine Truppen an an die Grenzen Tschetscheniens zurückzuziehen und zu den Bedingungen des Friedensvertrags von 1997 zurückzukehren. Maschadow will sich verpflichten, mit allen Ländern der Welt im Kampf gegen den Terrorismus zusammenzuwirken. Zum Kampf gegen Übergriffe an den Grenzen schlug er die Schaffung einer gemeinsamen Friedenstruppe aller nordkaukasischen Republiken und transkaukasischen Staaten vor.

Der tschetschenische Rebellenführer Schamil Bassajew drohte demgegenüber gestern mit Terroranschlägen in Russland. „Die russische Führung wird bald die Gelegenheit haben zu zeigen, wie sie Terrorismus gegen russische Bürger bekämpft“, sagte Bassajew in einem Telefonat mit der Nachrichtenagentur AFP.