„Diese Strömungskasperei muss aufhören“

■ Wolfgang Wieland, Innenexperte der Berliner Grünen, findet die Bundespartei dilettantisch

taz: Die Grünen haben 9,9 Prozent bekommen. Wieso glauben Sie, es hätten auch 20 Prozent sein können?

Wieland: Wir hatten diese Umfragewerte. Aber je länger die Bundesregierung vor sich hin dilettierte, desto mehr sanken sie und wurde aus Zustimmung radikale Ablehnung.

Sie fordern radikale Schnitte in der Bundespartei – welche?

Wir verlieren seit eineinhalb Jahren. Wenn führende Vertreter unserer Partei am Wahlabend sagen, es gehe wieder aufwärts, dann bekommen sie offenbar nicht mehr mit, was eigentlich geschieht: Wir haben ein Viertel unserer Wähler verloren. Was die ehemalige DDR anbelangt, stehen wir vor einem totalen Scherbenhaufen.

Sollten die Parteisprecherinnen Gunda Röstel und Antje Radcke zurücktreten?

Ein Auswechseln von Personen schwebt mir nicht vor. Insbesondere das Mobbing von Joschka Fischer gegen Gunda Röstel war völlig kurzsichtig. Das zeigt, dass Joschka Fischer seinen Westblick beibehalten hat. Wir haben das gleichberechtigte Zusammenwachsen mit den Parteifreunden aus dem Osten nicht geschafft. Nein, wir brauchen andere Strukturen. Diese Strömungskasperei muss endlich aufhören.

Soll es nur noch einen Parteichef geben – Joschka Fischer?

Fischer muss eingebunden sein in die Führung. Seine Lieblingsrolle muss er aufgeben: Wie ein Sputnik durch das Weltall zu schwirren und die Distanz zu den Grünen zu zelebrieren. Madeleine Albright ist in Kreuzberg nicht wahlberechtigt. Die, die es aber sind, haben uns zu einem Viertel wegen des Kosovo-Konflikts nicht mehr gewählt. 9,9 Prozent in Berlin heißen: Bei der Bundestagswahl sind wir nicht mehr drin. Wir haben eine dramatische Situation. Deshalb war alles, was Röstel und Trittin am Wahlabend gesagt haben, Schönrederei.

Schadet nicht ein so unbeliebter Umweltminister der Partei?

Trittin wurde Minister als Strömungshäuptling. Das war seine einzige erkennbare Qualifikation. Er hat einen großen Anteil an der Malaise, in der wir uns befinden.

Im Osten wurden die Grünen im Vergleich zu 1995 halbiert.

Unser Aufbau Ost ist gescheitert. Das gleichberechtigte Zusammengehen mit Bündnis 90 ist fehlgeschlagen. Man hat in dieser westlastigen Partei, auch in Berlin, die Bedeutung der neuen Bundesländer nicht begriffen. Das rächt sich heute fürchterlich.

Können die Grünen zu einer gesamtdeutschen Partei werden?

Das müssen sie, sonst gibt es sie mittelfristig nicht mehr. Wir sind auch in den Innenstadtbezirken des Berliner Ostens stark, aber das reicht nicht zum Überleben. Deshalb ist ein Neuanfang im Osten absolut vorrangig.

Ihr Parteikollege Bernd Köppl fordert eine Koalition oder Tolerierung der PDS.

Das wurde von uns vor der Wahl ausgeschlossen. Dabei bleibt es. À la longue liegt es an der PDS, sich zu ändern und tolerabel zu werden. Bis auf Herrn Köppl gilt, was wir vor der Wahl gesagt haben, sagen wir auch danach.

Ist die Ebbe bald vorbei?

Auf keinen Fall. Wenn der Abwärtstrend in den nächsten Wochen nicht gestoppt wird, gibt es uns in fünf Jahren nicht mehr.

Philipp Gessler