Sozialdemokratische Schieflagen

Wie kann es einer Partei schon gehen, die den historischen Tiefstand der Berliner Wahlen als Balsam für die Seele empfindet? Der SPD-Parteitag im Dezember muss das Ruder herumreißen. Ein Zustandsbericht  ■   Von Karin Nink

Franz Müntefering wird das gewohnte Statement zum Ausgang der Wahl abgeben“, kündigte die Pressestelle der SPD zum Wochenende an. – Verräterisch. Gab sie doch neben dem Hinweis auf den üblichen Wahlpressetermin auch die Erwartungen innerhalb der Partei zum Ausgang der Berliner Wahl preis. Nach den desaströsen Niederlagen der vergangenen Wochen war die nächste Katastrophe offensichtlich fest eingeplant. – Der freie Fall der SPD, Teil vier.

Nun scheint das Desaster doch nicht so schlimm wie befürchtet. Das schlechteste SPD-Resultat seit 1945 wertete der designierte Generalsekretär Franz Müntefering am Sonntag als Zeichen dafür, dass die Partei aus dem „tiefsten Tief heraus“ sei. Und Kanzler Gerhard Schröder spricht vom Anfang einer Trendwende. – Nur weil die Wähler und Wählerinnen die SPD wie beim Bungeespringen nicht ganz unten auf dem Boden, bei den vorhergesagten 17 Prozent, haben aufschlagen lassen, sondern das Seil „schon“ bei 22,4 Prozent bremsten.

Wie schlecht muss die Stimmung in der SPD sein, wenn ausgerechnet in Berlin, der Stadt Willy Brandts, in der er als Regierender Bürgermeister Anfang der 60er-Jahre mehr als 60 Prozent der Stimmen holte, 22 Prozent heute schon als Balsam für die sozialdemokratische Seele gelten?

Nach knapp einem Jahr rot-grüner Regierung fällt die SPD auseinander. Wut, Fassungslosigkeit, Frust und Verzweiflung machen sich unter den Genossen breit. Allein in diesem Jahr hat die Partei rund 10.000 Mitglieder verloren. „Es ist ein Sack von Flöhen, der nur mit einer Leitfigur zusammengehalten werden kann“, urteilt ein führendes Parteimitglied. Doch genau die fehlt der Partei, die ihre besten Zeiten immer mit einer autoritären Führungsperson an der Spitze erlebt hat.

Die Enkel haben sich im Kampf um die Führung gegenseitig demontiert und wirtschaften die Partei herunter, statt sich im Interesse des Machterhalts zusammenzuraufen. „Es wird ausgekämpft, wer übrig bleibt“, kommentiert das ein Bundestagsabgeordneter. Da hilft kein Schönreden mehr. „Die vergangenen elf Monate sind uns nicht gelungen“, gestand Müntefering vergangene Woche. „Die Wahlniederlagen kommen nicht von allein.“

Die Wähler sehen in der SPD nicht mehr die Partei der sozialen Gerechtigkeit, die für die Interessen der „kleinen Leute“ kämpft. Dass der Staatshaushalt konsolidiert werden muss, ist zwar allen klar, doch vermittelt die SPD den Eindruck, dass dies zu Lasten der sozial Schwächeren geschieht. „Soziale Schieflage“ ist das Reizwort. Selbst der Kanzler und Parteivorsitzende kann sich der Einsicht nicht länger verschließen, dass die Wähler es nicht entlohnen, wenn einer ständig vom Sparen redet, sich selbst aber vorzugsweise als erfolgreicher Aufsteiger präsentiert. Also weg mit dem Brioni-Anzug und der Cohiba-Zigarre und her mit dem „Kanzler aller Werkhallen“ (Süddeutsche Zeitung), dem die soziale Gerechtigkeit am Herzen liegt.

So schlüpft Schröder nun in die Rolle des Obergenossen für die kleinen Leute. Bis zum Parteitag in acht Wochen in Berlin wird er von SPD-Versammlung zu SPD-Versammlung reisen, sich mit Funktionären und Gewerkschaftlern treffen und versuchen zu erklären, dass seine Politik nicht „unsozialdemokratisch“ sei.

Reumütig wird er bekennen, dass er und seine Regierung auch Fehler gemacht haben, und mit großer Ernsthaftigkeit den Zwang zum Sparen für notwendig erklären. „Schröder ist auf der Suche nach der Seele der Partei“, frotzelt ein Sozialdemokrat. „Nur weiß die Partei nicht, ob das Taktik ist oder ob Schröder es ernst meint.“

Das ist eines der vielen Probleme des Gerhard Schröder. Wie soll einer, der seine Karriere immer eher gegen als mit der Partei geplant hat, plötzlich glaubhaft sozialdemokratische Werte verkörpern und vermitteln?

Auf dem Parteitag in Berlin aber muss der Funke überspringen, müssen die Delegierten mit dem Signal eines Neuanfang nach Hause fahren können. Sonst können die Genossen die Wahlen in Schleswig-Holstein in den Wind schreiben und für NRW nur noch hoffen und beten.

Müntefering hat sein Drehbuch geschrieben und den von ihm federführend formulierten Leitantrag auf traditionelle sozialdemokratische Werte getrimmt. Nun liegt es an Schröder, die Genossen auf seine Seite zu ziehen.

Einfacher wird es für den Kanzler nicht dadurch, dass Verteidigungsminister Rudolf Scharping allen öffentlichen Dementis zum Trotz immer mal wieder darauf hinweist, dass er letztlich doch der bessere Kanzler sei. Dass Schröder diese Diskussion als wachsendes Risiko betrachtet, machte er am vorigen Freitag vor dem ihm nahestehenden rechten „Seeheimer Kreis“ deutlich: „Es darf auf keinen Fall eine Personaldebatte geben“, sagte er, ohne den Namen Scharping zu nennen.

Schröder weiß, dass eine offene Auseinandersetzung zwischen ihm und Scharping die Partei vor eine neue Zerreißprobe stellen würde. Nach dem Abgang von Oskar Lafontaine und seiner Abrechnung per Buch fragen sich sowieso viele Genossen: „Wie kann man nach außen noch Werte wie soziale Gerechtigkeit und Solidarität vertreten, wenn man sich parteiintern bis aufs Messer bekriegt?“