Zwischen brillant und hausbacken

■ Der Bremerhavener Ballett-Chef Ricardo Fernando hat zu seinem Abschied Bela Bartóks „Der wunderbare Mandarin“ und „Scheherazade“ von Rimskij-Korsakow inszeniert

Eine Doppel-Premiere zum Abschied: Die letzte große Inszenierung des scheidenden Ballett-Chefs Ricardo Fernando machte noch einmal Schwächen und Stärken dieses dynamischen Brasilianers sichtbar, der mit seinem Amtsantritt vor sieben Jahren das Ballett am Bremerhavener Stadttheater aus seinem jahrzehntelangen Schattendasein befreit hat. „Scheherazade“ von Rimskij-Korsakow und „Der wunderbare Mandarin“ von Bela Bartók, 19. und 20. Jahrhundert, zwei Stoffe und zwei musikalische Formen vor und nach eienr Zeitenwende, orientalisches Märchenspiel und moderne Großstadt, spätromantische Sehnsuchtsklänge und hochnervöse Dynamik. Aber beide Stoffe eint ein Motiv: die Liebe bis in den Tod. Scheherazade folgt ihrem getöteten Geliebten Sindbad und der wunderbare Mandarin stirbt in den Armen der angebeteten, namenlosen Hure.

Bremerhavens Stadttheater hat während der Renovierung des Großen Hauses für Oper, Konzert und Ballett die ehemalige Turnhalle in der Carl-Schurz-Kaserne am Nordrand der Stadt in Beschlag genommen. Hier gibt es keine tiefe Bühne, sondern ein in die Breite gezogenes Podium. Das Orchester sitzt mitten im Publikum, für das ein Gerüst mit ansteigenden Sitzreihen in den Raum gebaut worden ist. Die improvisierte Konstruktion kann anregend sein, sie zwingt zu einfachsten Lösungen.

Ricardo Fernando hat sich für Bartóks Ballett-Pantomime zu einem starken Bild inspirieren lassen (Bühne und Kostüme: Stefan Stanisic). Für das Rotlichtviertel reichen ein Tisch, ein Bett, ein großes, illuminiertes Fenster. Hinter der Scheibe sitzt das Mädchen auf einem schäbigen Bürosessel. Wenn der Dirigent Peter Aderhold auf dem Weg zum Pult an ihr vorbei geht, wird er freundlichst angemacht. Dann ziehen Passanten am Fenster vorüber, empört, gleichgültig oder neugierig, Alte und Junge, Kinder und Touristen.

Das Zuhälter-Trio auf der Bühne zeichnet Fernando mit kräftigen Sprüngen um den gemeinsamen Tisch. Wenn Bruno Mora als Mandarin im langen Mantel auftaucht, beginnt langsam ein Tanz zwischen und Carla Silva als Hure, der einen magischen Glanz auf die Bühne bringt: Er ist nicht nur der Jäger, sie nicht nur die Beute. Er ist der Fremde, der weit mehr als ihren Körper will.

Fernando lässt die zarte Carla Silva zur fügsamen Puppe werden, die sich unvermittelt entzieht. Der Mandarin, der alle Mordversuche der Zuhälter überlebt und wie ein Terminator immer wieder aufsteht, kann erst in ihren Armen sterben. Diese Zuwendung bleibt zweideutig, das Mädchen reißt dem Fremden das Herz – ein länger werdende rotes Tuch – aus der Brust und verschwindet.

So mitreißend Fernando diesen Klassiker der Moderne inszeniert, so phantasielos und altbacken bleibt er bei „Scheherazade“. Er rettet sich in dekorative Gewänder (Bild und Kostüme auch hier von Stefan Stanisic), aber weder die vergebliche Werbung des Königs (Jason A. Barden) um die beim Schiffbruch gerettete Scheherazade (Carla Silva) noch das Wiedersehen zwischen ihr und ihrem Liebhaberr Sindbad schlagen irgendwelche Funken. Es bleibt bei konventionellen Formen und dekorativen Gewändern, wäre da nicht Carla Silva, die auch in dieser völlig anderen Rolle den Reichtum ihrer Ausdrucksmöglichkeiten beweist. An einem einzigen Abend von der Grazie der schamhaft liebenden Märchenprinzessin zur offen selbstbewussten, unberechenbaren Sexdienerin zu springen, ohne diese Figuren je zu vergröbern, das ist die Kunst dieser faszinierenden Tänzerin.

Wenn sie mit ihrem Mann Ricardo Fernando die Stadt verlassen wird, um von der kommenden Spielzeit an nur noch in Chemnitz zu arbeiten, geht in Bremerhaven ein Stück Ballettgeschichte zu Ende. Hans Happel

Die nächsten Vorstellungen: 14. und 29. Oktober, 20 Uhr, Stadttheater Bremerhaven in der Carl-Schurz-Kaserne. Karten und Infos unter 0471/49 001