Stagnationsexzesse

■ Die neue Zeit kam nicht bis in die Provinz: Zwei neue Romane des Ungarn Sándor Tar

Mit gleich zwei Romanen wird der in Deutschland nur wenig bekannte Sándor Tar jetzt dem deutschen Publikum vorgestellt. Tar, Jahrgang 1941, dessen Bücher teilweise unter János Kádár nicht publiziert werden durften, ist seit 1996 in verschiedene europäische Sprachen übersetzt und mehrfach ausgezeichnet worden. An den neuen auf Deutsch vorliegenden Romanen von 1995 und 1996 können Tars Stärken und Schwächen zugleich abgelesen werden.

Zu den Schwächen: Tars Kriminalroman „Die graue Taube“ ist, darüber kann der anspruchsvolle Untertitel „Roman über das Verbrechen“ kaum hinwegtäuschen, eine arge Enttäuschung. Der Eindruck, den der weitgespannte Anfang hinterlässt, worin der Leser so etwas wie eine Weiterschrift von Camus' „Pest“ zu erkennen glaubt, verliert sich schon nach wenigen Seiten. Der Roman dümpelt schnell in einer schlichten Kriminalhandlung dahin. Von einer geheimnisvollen Epidemie ist da die Rede, von angriffslustigen Tauben, von einer kriminellen Organisation, die ihre Klienten per Zeitungsinserat sucht, von Wahnsinnigen und von nicht minder irren Polizisten. Gut und Böse vermischen sich, Grenzen verschwinden, der „good guy“ entpuppt sich als der „worst boy“. Geschenkt.

Genauer wird Tar, wenn er über das schreibt, was er kennt: den sozialen und kulturellen Raum der Provinz, mag es ein Dorf oder eine Kleinstadt sein. Sein Text „Ein Bier für mein Pferd“ breitet ein Panorama vor dem Leser aus, in dem kleine persönliche Dramen in einer Vielzahl von Geschichten und Erzählungen zu einem großen Desaster der Stagnation und Perspektivlosigkeit zusammengeführt werden. Im Mittelpunkt des Buches steht das Elend einer Landbevölkerung, die seit je, mögen die welthistorischen Systeme sich auch längst gewandelt haben, in ihrer alten Spur bleibt; das Land, die Provinz und die Enge sind ein ewiger Fluch. Man möchte heraus, aber weiß nicht wie, kommt allenfalls einmal nach Budapest und dort unter die Räder oder kehrt frustriert wieder zurück.

Und so sieht dann das heute noch übliche Sozialisationsmuster aus: „Wer männlichen Geschlechts ist, beginnt mit vierzehn, fünfzehn zu rauchen und ein paar Jahre später zu trinken, er bringt irgendwie die Schule hinter sich und lernt einige Fabriken und Betriebe in der Stadt kennen, aber nur wenige haben die Kraft, endgültig wegzugehen. (...) Und es wird geheiratet und gestorben, Kinder kommen, viele bringen ihr Leben lang nicht über die Lippen, ich liebe dich, und sie bekommen es auch nicht zu hören. Umworben wird schnell und zielstrebig, erzählt der Amtsarzt, los, komm, so fängt es an, die sexuelle Kur ist seicht, anspruchslos, die Grabrede kurz, die Erziehung der Kinder praktisch null, sie bekommen Essen und Kleidung, fertig.“

Man vögelt, was das Zeug hält, trinkt unmäßig und gerät dann bisweilen auf Abwege, von denen der Selbstmord nur die letzte und radikalste Möglichkeit darstellt. Tars Buch, das eine Gattungsbezeichnung meidet, steht in der besten Tradition volkstümlicher, realistischer Dorfgeschichten des 19. Jahrhunderts, von Dorf- bzw. Kleinstadtgeschichten, deren ästhetischer Mehrwert im lakonischen Erzählton liegt, mit dem das Grau in Grau, diese öde Werkeltagsfarbe und -gesinnung (Hegel), gezeichnet wird, irgendwo in der Mitte zwischen Idealisierung und Kritik. „Diese Straße ist so etwas wie eine Mülldeponie oder ein Friedhof, hat Dorogi einmal in der Kneipe gesagt, einstens sind alle, die konnten, weggegangen, jetzt kommen sie zurück, und aus der Stadt ziehen sogar Fremde zu, Gescheiterte, (...).“

No way out – kein Licht am Ende des Tunnels, dieser Straße, der Eckkneipe ...

Werner Jung

Sándor Tar: „Ein Bier für mein Pferd“. Übersetzt von Hans Skirecki. Volk und Welt 1999. 228 Seiten. 32 DM „Die graue Taube. Roman über das Verbrechen“. Übersetzt von Krisztina Koenen. Eichborn 1999. 304 Seiten. 39,80 DM