Die Welt stört uns nicht sehr

Selbstzerstörung, das finden wir schön.“ Die jüngste Generation ungarischer Dichter fühlt sich nicht zeitgemäß: Anthologien zum Buchmessen-Schwerpunkt  ■ Von Katja Hübner

Hier kaufte man seine erste Westjeans und bekam die besten Langspielplatten: Ungarn war das beliebteste Reiseland des Ostblocks, weil es das „westlichste“ war. 1999, zehn Jahre nach dem Mauerfall, ist die politische Zweiteilung in Ost und West aufgehoben. Aber das Stigma der ungarischen als einer spezifisch „osteuropäischen“ Literatur hat überlebt. „Wie in jedem durch die Wende erschütterten Land leben auch in Budapest zwei Seelen in einer Brust“, schreiben die Herausgeber Gerhard Falkner und Orsolya Kalász in der bei DuMont erschienenen Lyrikanthologie „Budapester Szenen“: „die der bösen Vergangenheit mit ihren guten Seiten und die der guten Gegenwart mit ihren bösen Seiten.“

In dem in ungarischer und deutscher Sprache gedruckten Sammelband, der Gedichte junger und jüngster literarischer Gruppierungen Budapests versammelt, durchdringen sich Stoffe aus der von Weltschmerz getragenen Tradition mit Themen aus der Konsumwelt. Glück und Geld oder Liebe und Karriere – die Helden der meist prosaisch verfassten Lyrik bewegen sich zwischen den zwei verschiedenen Welten hin und her wie ein Pingpongball. Ob McDonald's, Spülmaschine, Deutsche Bank und Mikrowelle, das neue System wird dabei von den Autoren genauso heftig kritisiert wie die vormalige sozialistische Gesellschaft.

Was zählt, sind die alten Werte: „Seien wir glücklich – wie gehabt –, dass wir reinpassen. Stören wir nicht mit Geschrei das System ... Vertrödeln wir einfach – wie gehabt – unsere Zeit“, heißt es in einem Gedicht von dem erst sechsundzwanzig Jahre alten Zsolt Foragasi. Es ist, als ob der literarische Budapester Underground sich nicht zeitgemäß fühlen würde, obwohl er gleichzeitig zeitgemäß lebt. Man geht in Acid-Clubs, nimmt Drogen und hört Massive Attack. Doch ist es immer wieder das Alte, das unwiderbringlich Verlorene, welches Leere, Resignation und Lethargie hervorruft. Dann prallt der Ball ab und fällt in das Nichts. Oder in den Alkohol: „Schon wieder mehr Wasser drin / Wir sitzen, Verlierer, und schlucken, was sich vom Steilhang des Glases / stürzt in den Schnitt unserer dumpfen Blicke“.

Das kennt man. Den tiefen Blick ins Glas, den Hang zum Selbstmitleid, den Gefallen an der Verzweiflung. Das ist zweifellos osteuropäisch, aber ist es auch typisch ungarisch? Offenbar schon. Denn auch der ungarische Autor Endre Kukorelly bekennt: „Vermutlich haben wir Ungarn eine vergleichsweise unterentwickelte Selbstironie und bemitleiden uns zu sehr selbst. Selbstzerstörung, Klage, das finden wir schön.“

Endre Kukorelly, Jahrgang 1951, ist einer der einundzwanzig Autoren, die sich in dem Buch „Kettenbrücke“, einer Anthologie ungarischer Gegenwartsprosa, vorstellen. In diesem kleinen Taschenbuch kreist alles um den Titel – die „Kettenbrücke“. Sie ist das Wahrzeichen der Stadt Budapest, die Brücke, die die Stadtteile Buda und Pest miteinander verbindet. In jeder der Geschichten taucht die Kettenbrücke als Motiv, als Leitfaden auf, was dem Buch etwas von einer sogenannten Urlaubslektüre verleiht. Tatsächlich ist es aber ein Band, der vier ungarische Schriftstellergenerationen vereinigt und der den deutschen Leser auf die bedeutendsten von ihnen aufmerksam machen soll. So deutet der Titel „Kettenbrücke“ gleichsam den Brückenschlag von Ost nach West an. Von Sándor Tar über Péter Nádas und Endre Kukorelly bis hin zu der in Deutschland noch weitgehend unbekannten jüngsten Generation um Zsusza Kapecz, stellen sich die Autoren in einem literarischen Abriss zunächst vor und präsentieren dann eine oder mehrere ihrer Geschichten. Das Schöne dieser Herangehensweise ist, dass die Selbstdarstellungen mehr über den Autor zu sagen vermögen als die sonst üblichen biografischen Eckdaten.

So lässt Sándor Tar (geboren 1941) etwa gleich zu Beginn verlauten: „Ich habe keine menschlichen, schriftstellerischen Probleme durch diese oder jene gesellschaftlichen Übergänge. In der von mir beschriebenen Welt, in diesem minimalen Dasein verändert sich seit Jahrhunderten kaum etwas.“ Man erhält so direkt einen Einblick in Tars literarisches Werk, in dem er, wie auch in der in dieser Anthologie gedruckten Erzählung „Das Meer“, detailliert das Leben der Menschen am Rande der Gesellschaft beschreibt.

Ganz anders verhält es sich mit den jüngeren Autoren, wie beispielsweise László Garaczi, geboren 1956. In seiner Erzählung hat die Wende bereits Spuren hinterlassen. Er reist von Ungarn nach Deutschland, lamentiert über die Umbenennung von Ost- zu Hauptbahnhof und wieder zurück, will nach New York fliegen und ruft in Kreuzberg seinen Dealer an. Die verschiedenen Themen und die differente sprachliche Verwirklichung der Texte der jeweils verschiedenen Altersgruppen, das ist es, was das Buch lesenswert macht. Aber auch in dieser Anthologie ist die Auseinandersetzung mit dem Glück auffällig. Und dass mit Glück nicht das materielle, westeuropäische Glück gemeint ist, kann man bereits am Titel von László Garaczis Erzählung erkennen. Denn die heißt: „Überstrapaziertes Glück“.

„Budapester Szenen. Junge ungarische Lyrik“. Hrsg. von Gerhard Falkner und Orsolya Kalasz. DuMont 1999. 220 Seiten. 34 DM

„Kettenbrücke“. Hrsg. von Julianna Wernitzer. dtv 1999. 19,90 DM