Niederlagen sind ein Sakrileg

Neuseelands sieggewohntes Rugby-Team soll nicht nur den Weltmeistertitel zurückholen, sondern auch neue Sportartikelmärkte erschließen  ■   Aus London Clemens Martin

Welche Bedeutung Neuseelands All Blacks haben, hat mittlerweile auch die Firma adidas erkannt. Vor der vierten Rugby-Weltmeisterschaft, die zurzeit in Wales, Irland, Schottland, England und Frankreich stattfindet, hat der Sportartikelhersteller einen Sponsorvertrag über 120 Millionen Mark für fünf Jahre mit den All Blacks abgeschlossen – der größte Deal dieser Art, der je im Rugby abgeschlossen wurde. Zu diesem Vertrag gehört ein Werbespot, der zur Zeit nicht nur in den traditionellen Rugby-Ländern, sondern auch im Fernen Osten und in Amerika zu sehen ist. Er zeigt Neuseelands Rugby-Spieler im Einsatz und dazu Bilder von Maoris, die den Haka ausführen, den Tanz, den die All Blacks von den neuseeländischen Ureinwohnern übernommen haben und nun jeweils vor Beginn ihrer Spiele ausführen.

Ziel von adidas ist es, in die lukrativen Märkte in Asien und Amerika einzudringen. Dazu drängen sich die All Blacks aus zwei Gründen auf. Der Sportartikelhersteller ist der Ansicht, dass Rugby ein großes Wachstumspotenzial besitzt, und diese Sportart, auch wenn sie in England erfunden wurde, ist untrennbar mit Neuseeland verbunden. Das zeigt sich schon darin, dass die schwarzen Replika-Trikots dieser Mannschaft, mit dem Silberfarn auf der Brust, in über 50 Ländern verkauft werden. Und kein Land hat Rugby so dominiert wie Neuseeland.

Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Für die Neuseeländer ist Rugby mehr als nur Sport, es bestimmt einen großen Teil des Lebens, welches sich für „Kiwis“, wie sich die Einwohner der beiden Inseln selber nennen, zum großen Teil aus „Rugby, Racing and Beer“ (Rugby, Pferderennen und Bier) zusammensetzt. Es ist ein bevölkerungsmäßig kleines Land – knapp vier Millionen Einwohner –, welches sich mit seinem Rugby-Team international so herausragend bemerkbar macht. Die All Blacks sind eine Mischung aus Kraft, Präsenz und Unbesiegbarkeit, sie sind nicht nur eine Rugby-Mannschaft, sondern ein Mythos, eine Kultur und eine Industrie, alles mit einer besonderen Aura verbunden. In Neuseeland werden die Nationalspieler wie Halbgötter verehrt, Rugby ist dort quasi Religion, und dazu noch in einer besonders asketischen und intoleranten Form. Intoleranz in diesem Fall gegenüber Niederlagen. Um diese zu vermeiden, hat sich Neuseelands Rugby ständig weiter entwickelt, so dass Trainingsmethoden und Spielweisen weltweit kopiert werden.

Die Dominanz ärgert besonders die Engländer, die in 23 Spielen gegen die All Blacks erst vier Mal gewinnen konnten und am letzten Samstag in der Schlagerpartie der WM-Gruppenspiele eine weitere derbe Schlappe einstecken mussten. Das nächste Opfer der übermächtigen Neuseeländer werden, das ist sicher, morgen die Italiener sein, halbwegs ernst wird es für die All Blacks erst am Samstag in einer Woche, wenn es in Edinburgh im Viertelfinale vermutlich gegen Schottland geht. Doch auch diese Aufgabe dürfte eigentlich kein Problem für die Mannen um den schnellen Superstar Jonah Lomu sein.

Rugby sorgte aber auch für dunkle Seiten in der Geschichte Neuseelands. Ohne Rücksicht auf den Sportboykott gegen Südafrika zur Zeit des Apartheid-Regimes hatten die All Blacks Länderspie-le gegen die südafrikanischen Springboks ausgetragen – das internationale Ansehen litt beträchtlich, vor allem in den acht-ziger Jahren. Gleichzeitig erlebte die Konkurrenzsportart Rugby League (mit 13 statt mit 15 Spielern) einen enormen Aufschwung.

Um all dem entgegenzuwirken, betätigte sich Neuseeland, zusammen mit Australien, als Triebkraft für das Vorhaben der Austragung einer Weltmeisterschaft. Weil Frankreich sich von dieser Idee begeistert zeigte, zogen die anderen europäischen Rugby-Länder mit, und 1987 kam es zum ersten Turnier in Neuseeland, bei dem die All Blacks prompt das Endspiel gegen Frankreich mit 29:9 gewannen. Dieser Triumph hat mit dazu beigetragen, dass sie die WM-Trophäe quasi als ihr Eigentum betrachten und sie nun wieder den Südafrikanern entreißen möchten, welche vor vier Jahren Neuseeland im Finale besiegt hatten, was im Lande der All Blacks immer noch als schweres Sakrileg betrachtet wird.