Krabbenfischer fangen nicht nur Krabben

■ Die Auswirkungen der Fischerei auf den Garnelenbestand im Watt sind bisher nicht eindeutig geklärt. Doch die Forscher finden vermehrt Anzeichen für eine Überfischung

Nach Hochrechnungen benötigt der Muschelbestand acht bis neun Tage, um das Nordseewasser einmal durchzufiltern

Nordseegarnelen, wie Krabben zoologisch korrekt heißen, sind eine beliebte Delikatesse und zugleich eine wichtige Nahrungsquelle für zahlreiche Fisch- und Seevogelarten im Wattenmeer, unter anderem für Kabeljau, Wittling, Rotschenkel, Alpenstrandläufer und Seeschwalben. Neben Vögeln und Fischen ist der Mensch der wichtigste „Fraßfeind“ der Nordseekrabben. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zur Industrialisierung der Krabbenfischerei. Mit effektiveren Fanggeräten und größeren, stärker motorisierten Kuttern werden die Garnelenbestände des Wattenmeeres heute intensiv befischt. Technische Innovationen ermöglichten sowohl eine schnellere Verarbeitung an Bord als auch Fangfahrten bei schlechter Witterung und eine Verlängerung der Fangreisen. Während traditionell die Garnelenfischerei von April bis November stattfand, verfolgen heute größere Kutter die Krabben auch bis in ihre Winterquartiere in tieferen Gewässern.

Während Fische und Vögel im Wattenmeer jährlich 7.000 bis 8.000 Tonnen Garnelen fressen, beträgt die jährliche Fangmenge der Garnelenfischerei in Deutschland und den Niederlanden rund 20.000 Tonnen im Jahr. Das galt und gilt für viele bis heute als unbedenklich. Bei dieser vermehrungsfreudigen, schnell wachsenden Art halten sie es für ausgeschlossen, dass die Fischerei Schaden anrichtet.

Tatsächlich sind die Auswirkungen des zunehmenden Fischereiaufwandes auf den Garnelenbestand im Watt bisher nicht eindeutig belegt. Aber die Ökosystemforscher weisen in ihrem Bericht darauf hin, dass sich die Anzeichen für eine Überfischung mehren: Der Anteil großer Garnelen im Fang nimmt ab, der Anteil Eier tragender Weibchen geht zurück, die mittlere Länge der Eier tragenden Weibchen wird immer kleiner, und die Eizahl pro Weibchen verringert sich. Auch dass die Anlandemenge trotz gesteigerten Fischereiaufwandes – sprich der Industrialisierung der Krabbenfischerei – nahezu gleich geblieben ist, wird als Zeichen einer beginnenden Übernutzung gedeutet.

Neben der Bedrohung des Garnelenbestandes hat die Krabbenfischerei weitere Auswirkungen für das Ökosystem Wattenmeer. Denn den Krabbenfischern gehen nicht nur Garnelen in ihre engmaschigen Netze. Das meiste, was sie an Bord holen, ist Beifang: Krabben, die zu klein zum Verkauf sind, junge Schollen, Seezungen und andere Nordseefische und zahllose Bodentiere. Die Ökosystemforscher ermittelten: Bei der Anlandung von 4.278 Tonnen Garnelen von April bis November 1993 betrug die Menge des Beifangs rund 35.000 Tonnen. Die mit gefangenen Tiere gehen über Bord, nur wenige überleben.

Auf Grund ihrer Erkenntnisse über die Auswirkungen der Krabbenfischerei und wegen der drohenden Überfischung empfehlen die an der Ökosystemforschung beteiligten Wissenschaftler eine allgemeine Verringerung des fischereilichen Aufwands, das heißt der Zahl der Kutter und des Zeitraumes der Fangfahrten. Sie halten es für sinnvoll, die Winterfischerei auf Garnelen stark einzuschränken oder völlig zu verbieten und den Gesamtgarnelenfang im Wattenmeer zu begrenzen.

Auch die intensive Muschelfischerei im Wattenmeer ist umstritten. Der schleswig-holsteinische Landesverband des BUND hält die Novellierung des Nationalparkgesetzes für „halbherzig, inkonsequent und unzureichend“. Ein Kritikpunkt der Umweltschützer: Die intensive Nutzung des Nationalparks durch Muschelkulturen wird nicht reduziert und die Kernzonen des Nationalparks werden nicht von der Muschelfischerei freigehalten.

Muschelbänke haben eine besondere Bedeutung für das Wattenmeer. Sie sorgen für klares Wasser. Als Filtrierer holen Miesmuscheln Kleinstlebewesen wie Algen und andere Teilchen aus dem Nordseewasser. Eine Muschel filtert 20 bis 50 Liter Wasser am Tag. So sind Muschelbänke eine Art Klärwerk fürs Watt. Nach Hochrechnungen benötigt der Muschelbestand acht bis neun Tage, um das gesamte Nordseewasser einmal durchzufiltern. Mit Haftfäden, den so genannten Byssusfäden, heften sich Miesmuscheln an Pfählen, Steinen oder den Schalen von Artgenossen fest. Tausende von Muscheln sitzen manchmal auf einem Quadratmeter neben- oder aufeinander. Solche Muschelbänke bieten einer Vielzahl von Organismen Anheftungs- und Unterschlupfmöglichkeiten. Sie sind unter anderem Lebensraum für Seetang, Seepocken, Seeanemonen und Schnecken.

Miesmuscheln stellen zudem eine wichtige Nahrungsgrundlage für Seesterne, Fische und Vögel dar. Für viele Vögel im Watt bilden Muscheln die Hauptnahrung. Die Eiderente beispielsweise begibt sich zur Nahrungsaufnahme bevorzugt auf Miesmuschelbänke und nimmt bis zu zwei Kilogramm Muscheln pro Tag auf. Auch wenn Vögel jedes Jahr zwei Drittel des Miesmuschelbestandes wegfressen, so beeinflusst das dennoch nicht die Entwicklung der Miesmuschelbänke, denn die Vögel fressen ausschließlich ausgewachsene Muscheln. Ihr Futter wächst also nach. Konkurrenz bekommen sie aber von den Fischern. Der Muschelkutter macht Tabula rasa mit der produktiven Lebensgemeinschaft. Wenn die Kurre oder Dredge, ein Netz aus Drahtgeflecht, über die Muschelbank gezogen wird, nimmt sie alle Bewohner mit sich. Die Muschelfischer sorgen für Nachschub. Seit den 30er-Jahren legen sie Muschelkulturen an. Im Frühjahr sammeln die Fischer Jungmuscheln und setzen sie als „Saatmuscheln“ vornehmlich auf Flächen, die auch bei Ebbe überflutet sind. Diese Zonen werden sonst von Muschellarven nicht besiedelt. Sie bieten aber gute Bedingungen für ein schnelles Wachstum der Muscheln, denn sie zeichnen sich durch ein ständig verfügbares Nahrungsangebot aus. Auf den höher liegenden Flächen hingegen ist das Nahrungsangebot für die Muscheln unterbrochen, wenn sie bei Ebbe trockenfallen. Nach zweieinhalb Jahren werden die Muschelkulturen abgeerntet – wenn sie so lange überleben. Denn die untergetauchten Muschelkulturen sind ausgesprochen kurzlebig, das haben die ökologischen Untersuchungen gezeigt.

Oftmals haben schon nach ein bis zwei Jahren Seesterne, Strandkrabben und Eiderenten fast alle Muscheln gefressen, sodass die Bank aufhört zu existieren. Auch ein kräftiger Sturm kann eine solche Bank völlig auflösen. Ganz im Gegensatz dazu sind die Miesmuschelbänke auf den trockenfallenden Wattenflächen zumeist langlebig. Die Überlebenschancen der Muscheln sind hier größer, weil die Zahl der Fressfeinde geringer ist. Die Bänke bleiben oft Jahrzehnte an denselben Stellen erhalten. Seit es Muschelkulturen gibt, beträgt der Fang 20.000 bis 30.000 Tonnen im Jahr.

Es gebe keine Beweise dafür, dass sie den Muschelbestand im Wattenmeer vernichten, betonen die Fischer. Im Gegenteil, durch das Anlegen von Kulturen würden sie den Nachwuchs kultivieren und für die Verbreitung der Muscheln sorgen. Zudem würden Miesmuscheln in manchen Gebieten, zum Beispiel im Wurster Watt, auch ohne Fischerei verschwinden. In anderen Gegenden, beispielsweise im Jadebusen, so lautet die Argumentation der Wattnutzer, würden die Miesmuscheln trotz Befischung zunehmen.

Forscher und Umweltschützer halten dagegen. Die Muschelfischerei richte sichtbare Schäden an: Durch die Dredge würden alle Tiere auf den Muschelbänken getötet und wichtiger Lebensraum werde zerstört. Muschelkulturen, in denen alle Muscheln das gleiche Alter haben, seien zudem keine Lebensgemeinschaften. Die Biologen weisen drarauf hin, dass es in Holland kaum noch Wildmuschelbänke gibt. Dort wären darüber hinaus als Folge der intensiven Muschelfischerei 10.000 Eiderenten verhungert. Außerdem würde das Sammeln der Saatmuscheln die Wildbänke beeinträchtigen

Aus den Ergebnissen der Ökosystemforschung resultieren Empfehlungen für eine nachhaltige Muschelfischerei im Watt: Demnach sollten künftig keine Muscheln für den Konsum von Wildbänken gefischt werden. Die Gesamtfläche der Kulturen sollte nicht vergrößert werden. So ließen sich der Erhalt des Ökosystems Wattenmeer und der Erhalt der Muschelfischerei miteinander vereinbaren. Vera Stadie