Verzweiflung im Land der tausend Kriege

Der Friedensprozess in der Demokratischen Republik Kongo kommt nicht vom Fleck. Die Bevölkerung ist ausgelaugt. Im Rebellengebiet unter Kontrolle Ruandas fürchtet die UNO eine Hungerkatastrophe, und es kursiert die Parole vom nächsten Krieg  ■   Aus Bukavu Dominic Johnson

In Mobutus ehemaligem Park hat sich die ruandische Armee eingerichtet; die meisten Bäume sind abgeholzt. Wo früher eine reiche Sammlung tropischer Hölzer stand, ragen nur noch einige Stümpfe in den Himmel, dazwischen bizarre Ruinen einstiger Paläste. Manchmal, so berichtet ein Anwohner, üben die Soldaten mit ihren Luftabwehrraketen. Dann fallen die Geschosse in hohem Bogen in den Kivu-See, an dessen südliches Ende mit unzähligen Inseln und Halbinseln sich die Stadt Bukavu schmiegt.

Die Hauptstadt der kongolesischen Provinz Süd-Kivu war einst Juwel kolonialer Architektur und Luftkurort für belgische Aristokraten. Noch heute erahnt man bei der Einfahrt aus dem nahen Ruanda den abrupten Wandel von ruandischer Enge und penibler Ordnung zu kongolesisch-zairischem Überschwang und Protz. Aber hinter den breiten Toren und langen Einfahrten des Villenviertels stehen die meisten Häuser jetzt leer. Fast alle Millionäre, Geschäftsleute und Diplomaten sind fort. Verloren wandert ehemaliges Personal die Avenue entlang. Konspirativ bietet ein zerlumpter alter Mann Erinnerungen an eine verflossene Ära an: Froschschenkel zum Abendessen gefällig?

Nur noch ganz am Ende der Avenue, im katholischen Jesuitenseminar Amani, erbaut mit deutscher Hilfe, herrscht hinter hohen Zäunen trügerische Beschaulichkeit. Alte Ordensschwestern mit Brille und grauen Haaren sitzen unter alten Bäumen, den Blick Richtung See. Über die Herrschaft der Rebellenbewegung RCD (Kongolesische Sammlung für Demokratie), gestützt von Ruanda, sagt ein steinalter Pater: „Die Leute leben im Elend.“

Während die reichen Stadtviertel veröden, drängelt sich im Rest der Stadt die verarmte Bevölkerung des Umlands. Drei Kriege in fünf Jahren haben Bukavus Reichtum verzehrt, aber die Stadt insgesamt anschwellen lassen wie den Bauch eines hungernden Kindes. Von einst 360.000 Menschen ist Bukavu auf geschätzte 500.000 angewachsen. Kilometerweit erstrecken sich nun Lehmhütten zwischen schlammigen Wegen die leergeholzten Berghänge hinauf. Wenn es regnet, steht der Matsch knöcheltief, und bronze schillernde, heruntergeschwemmte Erde kräuselt sich im grünblauen See.

Auf den Märkten ist außer sündhaft teuren Lebensmitteln und spärlichen Billigwaren wie Seife kaum etwas zu sehen: Die Leute haben kein Geld. Ein Professor an der Universität sagt, er sei zum letzten Mal im Juli bezahlt worden – umgerechnet 25 Mark, das Gehalt für Mai 1998. Der Direktor des städtischen Krankenhauses erklärt, in 15 Monaten Kabila-Herrschaft habe es sechs Monatsgehälter gegeben, in den 14 Monaten RCD-Kontrolle seither bisher zwei. „Dass wir überhaupt weiter arbeiten“, sagt er, „verdanken wir ausländischen Partnern.“

Von den Versprechen der seit Sommer 1998 herrschenden RCD, eine bessere Alternative zu Kongos Präsident Laurent Kabila zu bieten, ist wenig geblieben. Die Vorwürfe reichen von organisierter Ausplünderung der Region zu Gunsten Ruandas bis zu schweren Menschenrechtsverletzungen. Geschäftsleute klagen über ständige Bettelei der Armee um Geld und Benzin.

Das Verhalten der RCD-Verwaltung macht tatsächlich einen kuriosen Eindruck. Wenn Provinzgouverneur Basengezi Kantitima sein Büro verlässt, um nach Hause zu fahren, steht ein Spalier von Soldaten für ihn stramm, und der Fahrer wirft das Blaulicht an, als müsse brausender Berufsverkehr überwunden werden. Der Besuch des ausländischen Journalisten hat solchen Seltenheitswert, dass das Gespräch gefilmt und dann mehrfach in voller Länge in Rundfunk und Fernsehen ausgestrahlt wird.

Vor dem Gouverneurspalast steht immer noch das Denkmal der Einheitspartei Mobutus, die zehn Meter hohe Revolutionsflamme aus Beton. Auf den Straßen patrouillieren immer noch Kabilas Verkehrspolizisten, schamlose Gestalten in blaugelben Uniformen ohne andere Funktion als die des Geldeintreibens. Kongos wiederholte Revolutionen äußern sich als politische Geologie. Jeder neue Herrscher fügt etwas hinzu. Aber am Ende bleibt jedesmal weniger.

Der Gouverneur sieht das natürlich anders. „Seit ich Gouverneur bin, ist die Sicherheitslage besser“, findet er. „Wir haben unsere Provinz der Außenwelt geöffnet. Der Unternehmerverband ist wieder tätig. Jeder kann seinen Geschäften nachgehen. Wir haben Straßenbauprojekte gemacht, damit Grundnahrungsmittel nach Bukavu kommen.“

„In Bukavu herrscht kein Krieg, alles ist ruhig“, bestätigt ein Oppositionspolitiker. „Aber die Ruhe ist trügerisch. Man muss nur einige Kilometer hinaus reisen: Alle Schulen sind geschlossen, die Leute leben in ständiger Angst vor Überfällen. Der Krieg hat sich verlagert, aber er ist omnipräsent.“

Man muss wirklich nur einige Kilometer hinaus reisen. Hier steht die Missionsstation, die die gegen die RCD kämpfenden Mayi-Mayi-Milizen neulich überfielen. Dort führt die Straße zu einer von ruandischen Hutu-Milizionären besetzten Plantage. Auf dem Teilstück davor überfallen zwei Tage nach der Fahrt 200 Bewaffnete einen Bauernkonvoi und töten drei Menschen, wenige hundert Meter vom nächsten Militärposten entfernt. Unzählige bewaffnete Gruppen sind in der Region aktiv. Die ständigen Einmischungen aus Ruanda, dem Land der tausend Hügel, haben den Osten Kongos zum Land der tausend Kriege gemacht.

Die RCD-Soldaten an den Straßensperren sehen eher selber schutzbedürftig aus. Heruntergekommen, zum Teil in Sandalen, treten sie an die Wagentür und halten die Hand auf. „Es sind halt Kongolesen“, erklärt ein Kongolese. „Sie sind nicht motiviert!“

Nach pausenlosen politischen Umwälzungen haben die Leute jeden Glauben an politische Veränderung verloren. Sie sprechen brav im Sinne der RCD von der „zweiten Befreiung“, aber das Wort hat keinen Sinn für sie. Höchstens denken sie noch wehmütig an die „erste Befreiung“ zurück, also die Rebellion Kabilas gegen Mobutu 1996 bis 1997, die zumindest noch den Anspruch eines gesellschaftlichen Umbruchs erhob. „Was wir heute erleben“, meint ein alter Staatsangestellter, „ist die Hölle.“

Das Krankenhaus von Bukavu registriert immer mehr Hungerpatienten. In der zuständigen Station liegen auf 30 Betten 35 Patienten. Die Station für unterernährte Kinder hat 27 Insassen. Manche laufen schon quirlig herum, andere müssen erst wieder genesen.

Der spindeldürre Bashegezi sitzt apathisch auf dem Bett und rührt seine Schüssel Reis und Bohnen nicht an. Er ist kaum größer als sein lebhafter fünfjähriger Bruder – aber er ist 12 Jahre alt und wiegt 12 Kilogramm. Eingeliefert wurde er eigentlich wegen Tuberkulose. „Seine Krankheit“, sagt Pfleger Désiré, „ist die Armut.“

Die Situation kann nur schlimmer werden. Nach dem Beginn des Krieges im Sommer 1998 flohen hunderttausende Menschen im Osten des Kongo aus ihren Dörfern in die Wälder, und viele sind immer noch dort. Jeder zweite dieser Flüchtlinge, die das UN-Welternährungsprogramm WFP derzeit bei seinen Suchoperationen in Süd-Kivu findet, ist unterernährt, jeder zweite davon schwer.

Die Zahl dieser Binnenflüchtlinge schätzte das WFP bereits im Juni auf 250.000. Eine neuere Zahl gibt es nicht, aber es werden immer mehr gefunden. „Und die, die wir finden, sind die, die man sehen kann, an die wir herankommen“, sagt Claude Jibidar, WFP-Leiter in Bukavu und Koordinator aller UN-Aktivitäten in Süd-Kivu. „Die im Busch sieht man nicht. Das liegt an der Unsicherheit: Unsere Teams reisen hin, bleiben ein paar Stunden, sehen ein paar Leute und gehen wieder. Sie können nicht übernachten. Und die Gegenden, die sie besuchen, sind die, die noch am besten dran sind.“

Jibidar leitete bis August vier Jahre lang die WFP-Hungerhilfe im Südsudan – dem schlimmsten Hungerkatastrophengebiet. Der Kongo, so fürchtet er, könnte noch schlimmer werden. „Die Unterernährungsraten hier sind dieselben wie im Sudan“, erklärt er. „Aber da hatten wir Zugang zu den Hungernden. Hier gibt es hunderttausende, zu denen wir keinen Zugang haben. Im Südsudan verhungerten 1998 60.000 Menschen; hier ist das Potenzial größer, denn das Problem ist verborgen.“

Jibidars Hoffnungen richten sich nun auf den UN-überwachten Friedensprozess für den Kongo, der am 9. Juli mit der Unterzeichnung des Friedensabkommens von Lusaka eingeleitet werden sollte. Die kämpfenden Truppen sollen dem Abkommen zufolge von Friedenstruppen abgelöst werden, die Kriegsparteien einen politischen Dialog beginnen. Aber umgesetzt worden ist fast nichts. Der politische Dialog scheitert an Formfragen. Die internationale Unterstützung ist vom UN-Sicherheitsrat auf 90 Militärbeobachter begrenzt worden, und selbst diese Zahl ist bisher nicht erreicht. Die Welt interessiert sich nicht für den Kongo.

In dieser Erkenntnis sind sich ausnahmsweise alle in Bukavu einig. „Wir verteidigen die internationale Gemeinschaft, aber nichts weist darauf hin, dass die internationale Gemeinschaft Lusaka umsetzt“, klagt der Gouverneur. Ein Lehrer sagt: „Ich glaube nicht an den Friedensprozess. So lange es bewaffnete Gruppen gibt, wird die Situation andauern.“ Dass eine starke internationale Truppe kommt, wünschen sich alle – ungefähr so, wie man sich einen Sechser im Lotto wünscht. „Frieden?“, fragt ein Agronom skeptisch: „Gibt es die UNO überhaupt?“

Und so wenig wie man die Lebensplanung am Lotto ausrichtet, so wenig bereiten sich die Kongolesen in Bukavu auf Frieden vor. Unter Teilen der Bevölkerung kursiert die Parole von der bevorstehenden Jagd auf die Ruander, vor allem auf die Tutsi. Man verabredet private Treffen, um dem Journalisten vom nächsten Krieg zu erzählen. „Alle jungen Leute in Bukavu sind zum Kampf bereit“, behauptet da einer, der zuvor versucht hat, die Existenz eines Tutsi-Großreiches von Kongo bis Somalia zu belegen. „Eines Tages werden wir die Tutsi verjagen, und es wird in Bukavu viele Tote geben.“

Nicht nur Spinner reden so. Ein Mediziner meint, ohne darauf direkt angesprochen worden zu sein, man werde wohl bald „zu den Waffen greifen“. Eine Mitarbeiterin einer ausländischen Organisation sagt, sie gehe nicht mehr zur Kirche: „Die Priester predigen den Hass: Die Ruander sind die Bösen und müssen weg.“

Wird Bukavu nach 1994, 1996 und 1998 im nächsten Jahr wieder Krieg sehen? Die RCD ist sich bewusst, dass die Menschen in Bukavu die ruandische Präsenz missbilligen. Der Provinzgouverneur nennt die Mayi-Mayi-Milizen, die sich selbst als Widerstandsbewegung gegen Ruanda sehen, „unsere Brüder“ und kündigt eine Friedenskonferenz für Süd-Kivu für November an. Ein traditioneller Führer, der der RCD nahe steht, meint diplomatisch: „Wenn die Ruander nicht abziehen, könnte die Spannung steigen. Die Bevölkerung könnte denken, dies sei eine Besatzung. Ich rate ihnen, nicht zu bleiben.“ Aber Ruandas Armee hat sich gut eingegraben. Von ihren Stellungen um Mobutus Zweitpalast hat sie die Stadt perfekt im Visier. „Frieden – das gibt es vielleicht in zehn Jahren“, meint der Agronom. „Das ist eine Sache für die nächste Generation.“