■ Pampuchs Tagebuch
: Das Schneeballkettenbriefmassaker

Manche Tage im Leben zeichnen sich dadurch aus, dass sie mehr Fragen aufwerfen als Antworten geben, dass sie uns unsere Geworfenheit vor Augen führen. Da geschieht plötzlich etwas, ohne dass geklärt ist, wer oder was da wie und zu welchem Behufe über uns kommt, geschweige denn, was der richtige Weg ist. Solche Erlebnisse, solche Tage, nennen wir sie der Einfachheit halber mal AOL-Tage („alles ohne Logik“), geschehen einfach und der Weise nimmt sie demütig hin, sieht in ihnen höhere Kräfte walten und reagiert spontan. Manchmal – selten genug – wird er dafür belohnt. Im Internet sind solche Tage Alltag. Weil es aber gerade in diesem Bereich zweifellos höhere Kräfte gibt, warum sollten die einen nicht gelegentlich belohnen?

Finde ich da doch in meinem Mailkasten von Freundin A. eine hoffnungsvoll weitergeleitete Botschaft mit dem fetten Thema: MICROSOFT/AOL MERGER. Merger, das wissen wir, heißt Fusion, Verschmelzung. Wie, was? Die beiden jetzt auch, wo wir gerade Steffi und Andre noch verarbeiten? Aber es kommt noch toller: Nach dem üblichen Zahlensalat, wo zwischendurch ein „wouldn't it be great!!!“ heraussticht, lese ich: „I hear it really works!! love Barbara“, um dann zu der eigentlichen Botschaft zu gelangen: Microsoft und AOL, so steht da, betrieben derzeit „in dem Bemühen sicherzustellen, daß der Internet Explorer weiterhin das am häufigsten benutzte Programm bleibt, einen E-mail-Beta-Test“. Wenn man diese E-Mail an Freunde weiterleite, könne und werde Microsoft dies zwei Wochen lang verfolgen und für jede Person, an die man sie weiterleitet, 245 Dollar bezahlen. Für jede weitere Weiterleitung 243 Dollar und für jede dritte Person (die sie dann erhält) 241 Dollar. Nach zwei Wochen werde Microsoft einen kontaktieren, die Adresse erfragen und einen Scheck schicken. Barbara selbst habe, nachdem sie die Mail erhalten und weitergeleitet habe, von Microsoft einen Scheck über 24800,00 Dollar bekommen.

Schneeballsystem, Kettenbrief, kennen wir doch alles. Andererseits steht da: „it really works“, und die unbekannte Barbara (mein Lieblingsname) ist immerhin reich geworden. Sagt sie. Dass Bill Gates viel Geld zu verschenken hat, wissen wir auch. (Bei AOL bin ich mir da allerdings nicht so sicher.) Grund genug jedenfalls, die E-Mail flugs an ausgewähltes Personal weiterzuleiten. Vier Leute, macht erst mal tausend Dollar. Man soll ja nicht zu gierig sein.

Zwei melden sich gar nicht erst, um danke schön zu sagen. Meine Kusine R., die gerade ihre ersten T-Online-Schrittchen tappelt – sonst einem Tausender nicht abgeneigt –, ist leider völlig überfordert. Sie habe „null!!!“ verstanden. „Wirre Wortkaskaden, unverständliches Zahlenzeug. Wie ein Schlag ins Gesicht“, tobt sie auf mein nettes Geschenk hin. Und: „Ich will nicht „mergen“! Hat da wohl was in die falsche Kehle gekriegt.

Und der Redakteur dieser Seite, der, so rechnete ich, vielleicht aus Dankbarkeit das poplige Zeilenhonorar erhöht? Hat die Mail noch gar nicht gelesen, als ich ihn zwei Tage später anrufe. Geschweige denn weitergeleitet. Dafür klärt er mich milde auf, dass das mit dem Beta-Test ja wohl ein Witz von Anti-Microsofties sei. Und überhaupt, wie ich so was auch nur eine Sekunde ernst nehmen könne. Demütig nehme ich's zur Kenntnis. Aus den 4 mal 243 Folge-Dollars nebst Drittgeldern wird wohl nichts. Doch auf den Scheck von Bill Gates warte ich trotzdem. Das ist jetzt mein persönlicher Beta-Test. Und gegen Verschmelzung habe ich übrigens auch nichts. Nur bei Schneebällen. Vor der Zeit. Thomas Pampuch

ThoPampuch@aol.com