■ Selbst wenn Oskar Lafontaine in der Sache meist richtig liegt, seine Glaubwürdigkeit als Politiker hat er selbst verspielt
: Ohne Maß und Vernunft

Die Regierenden vergeuden ihre Talente im selbstverliebten Genuß der Ämter

Der im Jahr 50 nach der Zeitrechnung in Makedonien geborene römische Historiker Plutarch machte sich einen Namen durch eine Reihe von Doppelbiografien berühmter Männer, je ein Grieche und ein Römer im Kontrast. Am Ende der Lebensbeschreibung des attischen Strategen Perikles, der im fünften Jahrhundert Athen im Krieg gegen Sparta führte, untersucht er dessen Nachruhm und steckt uns zugleich ein Licht über politische Kommunikation auf: „Solange er lebte, hatten viele seine Macht als drückende Bürde empfunden, unter der ihre Kräfte hätten verkümmern müssen, sobald er ihnen aber nicht mehr im Wege stand und sie andere Redner und Demagogen sahen, fanden sich dieselben Männer in der Überzeugung zusammen, dass sich noch nie in einem Charakter hohes Selbstgefühl mit größerer Mäßigung, freundliche Güte mit würdevollerem Ernst gepaart habe.“ Wußte schon Plutarch, dass der Tugenddiskurs in Heuchelei mündet? Bezüge auf die politische Theorie der Antike wirken meist wie Gipsstatuen in staubigen Lehrerzimmern; was sie mit der heutigen Wirklichkeit zu tun haben, bleibt im Nebel.

Die öffentliche Debatte um das persönliche Verhalten von Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder und all den anderen, die Schimpfkanonaden von Günter Grass – eine Debatte, die in dieser Schärfe bisher nur aus den USA bekannt war – setzt jedoch das Thema einer politischen Charakterologie erneut auf die Tagesordnung. Es war Oskar Lafontaine selbst, der in den Achtzigerjahren Helmut Schmidt vorhielt, sich an „Sekundärtugenden“ zu halten, mit denen man auch ein KZ führen könne.Wenn nun der Sicherheitspolitiker Egon Bahr als Elderstatesman dem „fahnenflüchtigen“ Saarländer vorhält, dass das Amt des SPD-Vorsitzenden kein Beruf, sondern eine „Berufung“ sei, wenn Politikerrunden über die Regeln von Freundschaften streiten und endlich Leitartikler großer Tageszeitungen die Nichtigkeit oder die Rücksichtslosigkeit des Kanzlers verdammend oder bewundernd hervorheben, dann wird am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts genau jener Diskurs geführt, der schon die Männerbünde der Antike faszinierte.

Es geht um Mut und Treue, um Gerechtigkeit und Geduld, um Weitsicht und Verantwortung. Ein Anachronismus? Man könnte es sich leicht machen und die ganze Inszenierung als notwendigen Effekt der Mediendemokratie betrachten. Doch gerade bei komplexen Debatten hält sich auch die Öffentlichkeit an schlichte Erfahrungen im alltäglichen Umgang.

Versprechen müssen gehalten werden, Freundschaften belastbar sein und Menschen ihre Überzeugungen bewahren, damit sie Vertrauen verdienen. Aber: Bestand nicht die Leistung der modernen politischen Theorie und Soziologie seit Machiavelli gerade darin, uns die simple Vorstellung auszutreiben, ein Staat sei wie eine Familie oder ein Freundeskreis zu leiten? Schlägt sich im Wiederaufflammen der Tugenddebatte nicht ein fundamentales Missverständnis nieder, das der Antike nachzusehen ist, da sich in ihr Politik, Wirtschaft und Gesellschaft noch nicht so stark ausdifferenziert hatten: Heutzutage wirkt das verheerend. Schließlich gründen politische Institutionen in der Moderne auf Recht, nicht auf Moral. Entscheidungen sollten verantwortungsvoll und nicht nach redlicher Gesinnung getroffen werden. Und vor allem: Institutionen verfahren nach einer Eigenlogik, die mit dem Verhalten einzelner Individuen nur wenig zu tun hat.

Freilich: Gerade die neuere politische Soziologie hat diese Meinung zurückgewiesen und sehr wohl auf die Bedeutung von Personen hingewiesen. Dabei geht es längst um mehr als um Max Webers Bild eines Berufspolitikers, der über Leidenschaft und Augenmaß verfügen sollte. Bei Niklas Luhmann lässt sich nachlesen, dass das politische System, spezialisiert auf die Produktion bindender Entscheidungen über den Einsatz von Recht und Geld, sehr wohl über Personen, die psychische und soziale Systeme strukturell koppeln, kommuniziert. Der pseudoaufgeklärte Beobachter irrt: Läppische Cohibazigarren oder Telefonate zwischen Politikergattinnen stehen öffentlich gleichwertig neben epochalen Entscheidungen wie dem Krieg im Kosovo.

Das politische System einer parlamentarischen Demokratie rekrutiert über Wahlen sein politisches Personal, das zwar für politische Programme steht, diese Programme aber auch selbst umsetzen muss. Eine theoretische Alternative dazu wäre das Abstimmen über Programme, die dann in absolutem Gehorsam von einer öffentlichen Bürokratie oder noch besser von intelligenten Maschinen ohne eigenes Interesse exekutiert werden. Die Unsinnigkeit dieser Alternative zeigt, dass der Wunsch nach so genannten „intelligenten“ Lösungen jenseits persönlicher Interessen und einem abstrakt formulierten „Gemeinwohl“ lediglich einem technokratischen Missverständnis des Politischen entspringt.

Ohne Leidenschaft und Streit, aber eben auch ohne Mäßigung und Vernunft, ohne die Fähigkeit zur Einsicht und das Streben nach Gerechtigkeit, ohne Mut und Verlässlichkeit – alles höchst menschliche Eigenschaften – kann eine parlamentarische Demokratie nicht funktionieren. Um diese Befähigung zur Politik zu beurteilen und damit die Glaubwürdigkeit von Personen, liegt nach wie vor kein besseres Vokabular vor als der gegenwärtig arg strapazierte Tugend- und Charakterdiskurs. Der Wunsch nach Glaubwürdigkeit erweist sich nicht als zynisch belächelbare Naivität von Jugendlichen, sondern als eine nüchtern zu vermerkende funktionale Voraussetzung von repräsentativen Demokratien. Im Normalfall, so viel sei eingeräumt, spielt derlei keine Rolle. Dass Personalfragen überhaupt im Vordergrund stehen, belegt die Krise der rot-grünen Regierungskoalition so deutlich wie ihre Wahlniederlagen.

Das führende Personal dieser Regierung und der sie tragenden Parteienkoalition besitzt entweder die erforderlichen charakterlichen Eigenschaften nicht oder vergeudet seine unbezweifelt vorhandenen Talente im selbstverliebten Genuß glänzender Ämter. Am Fall von Oskar Lafontaine, der in fast allen Sachpunkten Recht hat und dennoch nicht erklären kann, warum er seinen Parteivorsitz erst niederlegen mußte, um die von ihm so ermöglichte neoliberale „Politik aus einem Guß“ in den Blättern der Boulevardpresse zu kritisieren, zeigt sich wie zumeist, dass der Prediger der Tugend ihr selbst nicht genügen kann.

Wußte Plutarch schon, dass der Tugenddiskurs in Heuchelei mündet?

Die klassische Lehre bindet Tugend und Mut aneinander: Ohne eine Vorstellung von Gerechtigkeit wird Mut zur blinden Tollkühnheit, ohne „jene Festigkeit des Herzens“ jedoch, die Max Weber 1919 beschwor, gibt es „keinen Beruf zur Politik“.

Micha Brumlik