Grabschänder ist der Mann von nebenan“

■ Christian Roßnagel, Psychologie-Dozent an der FU Berlin: Die sogenannten Grufties sind nicht per se für den Vandalismus auf den Friedhöfen verantwortlich. Die wollen hauptsächlich ihre Ruhe haben

taz: Was für Menschen randalieren auf Friedhöfen?

Christian Roßnagel: Bei Leuten mit antisemitschem Hintergrund ist das relativ klar: Da spielt eine gewisse Feigheit eine Rolle, weil man sicher sein kann, mit geringem persönlichen Risiko Schlagzeilen zu machen. Das ist etwas anderes, als mit dem Baseballschläger loszuziehen.

Nun gibt es auch Grabschändungen auf christlichen Friedhöfen. Wer ist dafür verantwortlich?

Das sind in erster Linie Leute, die im Alltag nicht klar kommen. Motiv ist im Prinzip Rache an Personen oder auch Institutionen, die sich nicht mehr wehren können. Damit können diese Leute mit geringem Risiko mehrere Tabus auf einmal brechen und so eine gewisse Rache-Genugtuung erlangen. Das kann der zurückgezogen lebende 50-jährige Junggeselle sein, dem man ein solches Verhalten nie zutrauen würde. Mitunter werden gezielt Gräber von Verwandten oder Bekannten beschädigt, denen man im Nachhinein eins auswischen will, weil man sich das vorher nie getraut hat.

Was treibt Menschen überhaupt nachts auf Friedhöfe?

Bekannt sind vor allem die so genannten Grufties dafür, nachts auf Friedhöfe zu gehen. Sie sind in der Regel depressiv, haben das Gefühl, dem Leben ausgeliefert zu sein. Und sie kommen oft aus einem religiös geprägten Hintergrund. Das bedeutet nicht, dass die Eltern tief religiös sind. Eher spielt die Haltung eine Rolle, dass man brav und ordentlich sein muss, weil man sonst von einer höheren Macht bestraft wird. Das kann dann die Faszination für das Jenseits ergeben. Damit verknüpft ist die Hoffnung auf eine besseres Leben nach dem Tod.

Ist das eine christlich-religiöse Haltung dieser Menschen, die nur etwas überdreht ist?

Diese Ursprünge sind schon da. Dahinter steht diese Heilsfantasie, dass im Jenseits alles besser wird. Diese wird auch von Familien vermittelt, die nicht jeden Sonntag in die Kirche rennen, aber eine allgemeine Demut an ihre Kindern weitergeben. Das kann unterschiedliche Fluchtreaktionen provozieren. Die einen schlagen über die Stränge; die anderen, die eher introvertiert sind, wenden sich manchmal diesen Jenseitsfantasien zu. Mit dem entsprechenden Satans- und Todeskult.

Die Grufties hocken sich dann vor einen Grabstein und hoffen, dass alles besser wird ...

Um der Weltflucht Ausdruck zu verleihen, geht man dahin, wo man den Todessymbolen nahe ist. In den achtziger Jahren gab es eine starke Gruftie-Bewegung mit bis zu 40.000 Mitgliedern. Heute sind das noch 4.000 bundesweit.

Ist denn jeder, der nachts auf dem Friedhof herumschleicht, ein potenzieller Grabschänder?

Die Grufties sind nicht per se die Grabschänder. Zwar gibt es auch extreme Grufties, die Leichen ausbuddeln, aber das sind Randerscheinungen. Die Grufties sind friedlich, sie schaffen sich an diesem besonderen Ort ihr Gruppengefühl. Die wollen einfach in Ruhe gelassen werden.

Interview: Richard Rother