Zwischen den Rillen
: Die Narbe unter der Designerbrille

■ Das ABC der Liebe: Destiny's Child und Mary J. Blige kehren ihr Innerstes heraus

R 'n' B ist die älteste Popmusik der Welt, und seit es sie gibt, handelt sie von nicht viel mehr als Gefühlen. In diesen posthumanen Zeiten, in denen Rock sich verflüchtigt hat, ist es tatsächlich das letzte Pop-Genre in der westlichen Welt, das noch einmal durchbuchstabiert, was den Menschen so im Innersten zusammenhält. Geblieben sind nur die R 'n' B-Entwürfe. Wer also etwas über Beziehungen wissen will, sollte R 'n' B hören: zum Beispiel Mary J. Blige. Besonders wenn man etwas über unglückliche Beziehungen hören will, denn darauf ist sie spezialisiert.

So sehr sich Themen wie Verlassen-, Mies-behandelt- und Ausgenutzt-Werden schon durch ihre anderen Alben zogen: Auf „Mary“ erreicht sie eine neue Ebene, so sehr stellt Mary J. Blige hier ihr Innenleben zur Schau. Sie trägt ihre Verletzungen nach außen, und diese persönlichen Referenzen reichen bis ins Artwork: Wo sonst die Haare oder ein Designerbrillenbügel eine große Narbe unter dem Auge verbargen, hat sie genau diese Narbe ins Zentrum des Covers gerückt.

Und damit fängt es gerade einmal an: Mit K-Ci von Jodeci hat sie nicht nur ihren Exfreund zu einem Duett eingeladen, sondern gleichzeitig denjenigen, wegen dem sie lieber trank, als pünktlich zu Interviews zu erscheinen, und lieber Drogen nahm, als ihre Konzerttermine einzuhalten. So strahlt „Not looking“ in einer Intensität, dass man am liebsten weghören möchte, wäre man nicht hypnotisiert.

Das hört sich beispielsweise so an: Er: „Ohoahayeah! Ich will nicht gemein sein, aber ich will keine Liebesbeziehung, respektiere also meine Ehrlichkeit!“ – Sie: „Du glaubst, du hast es drauf? Hör bloß auf, mir zu erzählen, ich sei zu gut für dich! [Er: „Girl!!“] Auf diesen ganzen Player-Scheiß kann ich verzichten!“ – Er: „Hör bloß auf, mich deswegen anzumachen [Sie: „Nigga, please!!“], es gab Zeiten, wo dir das ganz gut gefallen hat!“ – Sie: „Ich habe keine Lust mehr, Spiele zu spielen, und ich brauche keinen egozentrischen und arroganten [Er: „Ich höre dich!!“] Player!“ – Er: „Das bin ich nicht!“ – Sie: „Verschwinde!“ – Er: „Es tut mir Leid!“ – Sie: „Ich weiß.“

Oder in „Your Child“, ein Stück, das sich darum dreht, dass ihr Lebensgefährte ihre beste Freundin geschwängert hat, nun aber alles abstreitet, während sie jetzt das Baby in den Armen hält und feststellen muss, dass es seine Augen hat. Man mag kaum darüber nachdenken, wer da am tiefsten in der Tinte steckt, sie, er oder ihre gemeinsame Freundin. Denn auch der andere ist selten wirklich glücklich, wie in „No Happy Holiday“, wo sie sich nicht mit dem Gedanken anfreunden kann, einen verheirateten Mann zu lieben, der an Feiertagen immer bei seiner Familie ist, sodass sie die Feuerwerke am 4. Juli wohl für immer alleine anschauen muss. Das sind Tragödien, wie das Leben sie schreibt, Authentizität-by-the-pound, und wer sich dem entziehen kann, muss so kaltherzig sein, dass sein Atem bei einer Liebeserklärung gefroren in der Luft stehen bleibt, um dann klirrend zu Boden zu fallen. Glück ist hier nur als Opfer für den anderen denkbar.

Musikalisch hat sich Mary J. Blige vom HipHop-Soul-Crossover gelöst, als dessen Königin sie galt, ohne aber die Musik in eine Diva-mäßige Überhöhung zu treiben, wie etwa Mariah Carey oder Whitney Houston. Mary J. Blige bleibt in ihren Gesangslinien ähnlich down-to-earth wie die Themen ihrer Stücke. Produziert hat sie einen Großteil der Stücke selbst, und wenn nicht, dann kommt die musikalische Begleitung von Babyface, Lauryn Hill oder Jimmy Jam und Terry Lewis, dem Produzententeam von Janet Jackson. Das hört sich manchmal fast nach den Mittsiebziger-Alben von Stevie Wonder an. „Mary“ hat klassische Größe.

Ähnlich gekonnt halten auch Destiny's Child die Balance zwischen Endneunziger-Soul und historischem Erbe. Sie haben gleich ihr ganzes Album dem Thema der zwischenmenschlichen Beziehungen gewidmet beziehungsweise dem, was passieren kann, wenn man oder frau etwas falsch macht.

Jedem Stück ist ein – den Zehn Geboten nachempfundener – Sinnspruch voran gestellt. Wer sich nicht dem entsprechend verhält, wer etwa vergisst, regelmäßig „I love you“ zu sagen, oder wer nicht daran denkt, die Rechnung für das Handy mit der eigenen Kreditkarte zu bezahlen, oder etwaige Vergehen nicht gesteht, der wird in den symbolischen Bus gesetzt und kann das Weite suchen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, womit sie gleichzeitig die Probleme heutiger Gefühlshaushalte abdecken und sich der Gospelroots des Soul versichern – begann doch alles einmal mit Stücken wie „The Ten Comandments Of Love“ oder „The ABC Of Love“.

Dabei fangen Destiny's Child selbst gerade erst an. Sie kommen aus Houston, Texas, haben ein Durchschnittsalter von 18 Jahren und singen schon zusammen, seit sie laufen können. Musikalisch ist „The Writings On The Wall“ der beste Beleg dafür, wie sehr der Timbaland und sein Holperbeat-Sound mittlerweile weite Teile des R 'n' B regieren. Obwohl er nur bei einem Stück die Finger an den Reglern hatte, hört sich die Platte an, als wäre der Meister selbst oder zumindest einige seiner Gesellen hier am Werk gewesen. Tobias Rapp
‚/B‘Mary J. Blige: „Mary“ (MCA/Universal) Destiny's Child: „The Writings On The Wall“ (Columbia/Sony)