Pantoffelheld und Gegenpapst

Wo eine Unzeit ist, ist auch ein Oskar. Wer Lafontaines Buch mit Blick auf seine politischen Anliegen liest, wird enttäuscht. Es geht nur um weitere Verratslegenden. Für die Abrechnung mit Schröder scheint jedes Mittel recht  ■   Von Norbert Seitz

Dass Oskar je als „political animal“ gefeiert wurde, beweist einmal mehr die Dürftigkeit der hiesigen politischen Klasse

Als Egon Bahr 75 wurde, hielt der Vorsitzende eine seiner berühmten rotweinseligen Nachmittagsreden. Vom Jubilar habe er frühzeitig gelernt, so Lafontaine verschmitzt, dass eine Troika nur funktioniere, wenn sich zwei gegen einen einig seien. Sehr komisch fand das in dieser Runde offenbar nur er. Das war 1997. Zwei Jahre später waren Gerd und Rudolf sich einig, und Oskar ging. Dass er der Loser des ganzen Spiels sein würde, war nicht überraschend, da es trotz geringer persönlicher Wertschätzung zwischen Schröder und Scharping den größten gemeinsamen Nenner in Sachfragen gibt. Zwischen Schröder und Lafontaine gab es nur ein killing interest in Mannheim, zwischen Scharping und Lafontaine seit Mannheim nichts. Dumm gelaufen, Oskar!

Doch seit er am Sonntag bei Sabine Christiansen sein schimmeräugiges „War nicht so gemeint“ aufsetzte, beschäftigt er schon wieder die Interventionshirne von ein paar Unverdrossenen. Wo eine Unzeit ist, ist auch ein Oskar. Dass er am 7. Dezember im Neuköllner „Estrel“ beim SPD-Parteitag mit der Tür ins Haus fallen könnte, dürfte wohl in den nächsten Wochen von Unentwegten betrieben und medial geschürt werden.

Jene publizistischen Oskar-Groupies, die noch immer einem verkannten Genie und ewigen Talent nachweinen, übersehen geflissentlich, dass es kaum einen Spitzenpolitiker mit einem unausgewogeneren Timing gab. Darüber legt das Buch nachdrücklich Zeugnis ab. Er zauderte – 1987 –, wo er hätte springen müssen, und sprang – 1990 –, wo er sich besser mit vielen guten Gründen zurückgehalten hätte.

Wer das höchste Parteiamt aus Angst vor den Alten scheut, gilt landläufig eher als Memme denn als Draufgänger. Welcher Nachfolger hat es nicht mit lauter kritischen Vorgängern, Dreinrednern und Klugscheißern zu tun. Die sterben in der Regel nicht auf einen Schlag weg. Und wer Brandt laufend Wünsche abschlug, durfte sich über dessen frühe Distanzen zum angeblichen Lieblingsenkel nicht wundern. Dass Lafontaine hierzulande je als „political animal“ abgefeiert wurde, beweist einmal mehr die Dürftigkeit der hiesigen politischen Klasse.

Diese Mischung aus Wehmut und Rechthaberei, Mimose und Machtmensch, Pantoffelheld und Gegenpapst taugt nicht zu dem, was das Buch aus Gründen der Vermarktung sein soll – eine Abrechnung mit dem Kanzler, dem Vizekanzler, den Modernisierern, dem Blair/Schröder-Papier usf. Wer es nur mit Blick auf seine politischen Anliegen liest, wird sicher enttäuscht. Denn seine bekannten finanzpolitischen Megabotschaften, sozialpolitischen Glaubensbekenntnisse und deutsch-französischen Treueschwüre dienen letztendlich nur weiteren Verratslegenden und neuen Revisionismusvorwürfen.

Bis auf wenige Ausnahmen – Klimmt, Antje Vollmer, Rau oder Andrea Nahles („in schwarzer Lederjacke“) – fühlt sich Lafontaine in diesem Buch von fast allen mies behandelt, schwer verletzt oder im Stich gelassen. Wie sehr er seine ihn anhimmelnde Partei im Stich gelassen haben könnte, darüber verschwendet der Autor indes keinen Gedanken.

Bei demoskopischen Vergleichen mit Schröder sei er „in verletzender Weise herabgesetzt“ worden. Sogar den Spott auf seinen Techno-Tanz auf der Bühne des Kölner Jugendparteitages hält er nur schwer aus. Die Journalisten hätten „die Selbstironie meiner Verrenkungen geflissentlich übersehen“. Die Kommentare „waren dazu angetan, mein Selbstbewusstsein zu beschädigen“. Auch die Kritik an seinem Fernbleiben beim Euro-Anstoß zu Silvester 98 gerät zum persönlichen Familienrührstück. Die dritt-ehelichen Spätvaterschaften kneten auch Spitzensozis butterweich: „Dienstleistungen können die Familie nicht ersetzen.“

Sogar vom alten Kanzler Kohl fühlt er sich „im sportlichen Sinn schlecht behandelt“. Es habe ihn gekränkt, dass dieser seinen Wahlsieg von 1990 niemals relativierte. „Durch das Attentat war ich schwer angeschlagen, konnte ich nur noch mit halber Kraft fahren.“

Wer nicht einstecken kann, ist im Austeilen meist umso besser. In der Abrechnung mit Schröder scheint jedes Mittel erlaubt – auch das versteckte Foul: „Aber viele, die über Keynes urteilen, haben keine Zeile von ihm gelesen. Zu Juso-Zeiten spotteten wir über den einen oder anderen, der Marx allenfalls von Klappentexten oder aus der Sekundärliteratur kannte.“

Schon als er ihn 1986 kennen lernte, fühlte er sich klar besser als Gerd – im Singen der Parteilieder: „Du singst ja fürchterlich.“ Schröder bekennt, völlig unmusikalisch zu sein. Und als Gerd im Mai 1990 mit 44,2 Prozent Ministerpräsident in Hannover wird, habe er sich „in seinem unnachahmlichen Charme“ bei Oskar bedankt: „Der Stich in den Hals hat zwei Prozent gebracht.“ Eine Männerfreundschaft bahnt sich an. Auch am Abend der alles entscheidenden Niedersachsenwahl im März 98 „ärgerte mein Freund Gerd mich schon wieder“. Der Grund ist eher läppisch: Schröder erklärte, vom Parteivorsitzenden gebeten worden zu sein, die Kanzlerkandidatur zu übernehmen. Drängler fühlten sich meist berufen.

Gedrängelt wurde Oskar vor Mannheim von Christa. Das Buch bezeugt es. Sie sagt ihm vor dem Putsch-Parteitag, wo es langgehen soll. Bei einem Treffen mit Rau und Scharping daheim moniert sie, dass sein Wunsch nach einer neuen Machtaufteilung in der SPD nicht deutlich genug rübergekommen sei. Christa lässt nicht locker, drängt Oskar in die Pose des Retters, um den „Niedergang der Partei in der Zeit Rudolf Scharpings“ zu beenden. Sie habe immer auf ihn eingeredet, „ich könne doch nicht tatenlos zusehen, wie die Partei immer weiter in den Meinungsumfragen abrutsche“. Doch der Hausvater wendet ein, eine Übernahme des Parteivorsitzes erschwere das Familienleben.

Der Fluch der bösen Mannheimer Tat zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. Die Chuzpe, Scharping nach dem Wahlsieg als Fraktionsvorsitzenden zu verhindern, aus „Loyalität“ zum neuen Kanzler, hat nur unteres machiavellistisches Niveau.

Forsch, aber doch oftmals unvorbereitet geht Oskar an die Arbeit, nimmt sich die Neuordnung der Weltfinanzmärkte vor, um die Währungsspekulation zu bekämpfen, und streitet aufrecht für gemeinsame soziale Standards in Europa, eine Umorientierung in der Standortdiskussion und gegen die „Stabilitätskultur der Bundesbank“, hinter der er die Hauptursache für die hohe Arbeitslosigkeit in Deutschland und Europa vermutet.

Doch rasch muss er erkennen, „dass meine Vertrauensbasis als Parteivorsitzender geringer war, als ich es mir nach den drei Jahren der Zusammenarbeit und der Integration vorgestellt hatte“. Er möchte einen stillen Kurswechsel von seinen rot-grünen Wahlgeschenken zum angeblichen Neoliberalismus nicht mitverantworten und geht. „Das Maß dessen, was ich mit meiner Selbstachtung vereinbaren konnte, war längst überschritten.“ Man muss dem Autor wohl abnehmen, dass sein Rücktritt „eine Spätfolge des Attentats aus dem Jahre 1990“ darstellt.

Nach dem Rücktritt meldet sich die ganze Politprominenz bei ihm in Saarbrücken – Kohl und Genscher, Bahr („Ich wünsche dir Genesung von den Verwundungen“) und sogar Linkmichel Modrow, „den ich in der Zeit der DDR als Bezirksvorsitzenden der SED von Dresden kennen- und schätzengelernt hatte“.

Erleben wir also noch eine weitere Überraschung? Bisher war Lafontaine für manche gut. So präsentierte er auch „ohne vorherige Absprache“ bei Brandts in Unkel eine Lammkeule, was „beinahe zum Streit“ mit Brigitte geführt habe.

Preisfrage am Schluss: Wer hat Bebels goldene Uhr, die Willy Brandt einst an seine Nachfolger weitergab? Lässt Scharping sie trotzig auf der Hardthöhe bewachen, hat Engholm sie verlegt oder Vogel sie in einer Klarsichthülle verwahrt?

Oskar Lafontaine: „Das Herz schlägt links“, Econ Verlag, 318 Seiten