Der Rest ist für Sie!“

Die Hamburger Gaststätte „Zum kleinen Zinken“ ist kein Lokal wie jedes andere. Wer von der Sozialhilfe lebt, kann hier für sieben Mark ein anspruchsvolles Menü zu sich nehmen – alle anderen Gäste zahlen mehr. Bekocht und bedient werden die Gäste des „Restaurants für Arm und Reich“ von langzeitarbeitslosen Frauen mit Fachkenntnissen. Vom Alltag in einer erfolgreichen Einrichtung berichtet Birgit Glombitza

Das Perlhuhn muss einmal ein ganz besonders zartes Geschöpf gewesen sein. Jetzt schwimmt seine Brust in pikanter Thaicurrysauce im Dialog mit Zucchini-Walnussgemüse und Basmatireis. „Doch, ja“, sagt der zufriedene Gast, tupft sich mit der Serviette so souverän die vegetarischen Dialogreste aus den Bartzipfeln, als hätte er seit Kindertagen nichts anderes als Rehrücken mit Preißelbeeren auf dem Teller gehabt und als habe ihm das Leben seine kälteste Seite bestenfalls in Form diverser Sushigerichte gezeigt.

Doch, ja. Dieter ist zufrieden. Und das, obwohl der Tag ziemlich mies anfing. Erst haben die Türken über seiner Wohnung in Veddel „so einen ausländischen Radau gemacht, dass man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen konnte“. Dann noch der Eisenbahnlärm am frühen Morgen. Auf dem Sozialamt hat er sich die Hacken abgerannt, um dann doch kein ermäßigtes HVV-Monatsticket zu bekommen. Was will man machen?

Er ist mit seiner Freundin Susanne fein essen gegangen. Wenn der Ranzen spannt, kann das harte Leben kommen. Oder so ähnlich, denkt sich Dieter immer. Und als die Bedienung ihm die Rechnung vorlegt, zieht er mit Verve einen Zehnmarkschein aus der Brieftasche. „Der Rest ist für Sie.“ Ein Festtagssmenü für sieben Mark (Zinkenpreis). Für sechzehn, wenn man will (Standardpreis), für 24, wenn man kann (Solidaritätspreis). Wer nichts hat außer Sozialhilfe, erhält die „Zinkencard“, was zur Bezahlung mit dem Minipreis berechtigt. Alleinerziehende Mütter, Studierende oder brotlose Kunstschaffende können den Standardpreis wählen. Ehrliche Gutverdienener zahlen Solidaritätszuschlag. In einem Edelrestaurant würde die besser zahlende Kundschaft für ein Mittagsmenü gleicher Qualität dasselbe berappen.

Das „Restaurant für Arm und Reich“, Gaststätte und gastronomische Fortbildungstätte für Frauen in einem, ist einzigartig in Deutschland. Im Hamburger Stadtteil Ottensen, einem von Oberstudienräten, Langzeitsportstudenten und Duftlampenfreunden bevölkerten Viertel, liegt es etwas versteckt in der Rothestraße 50. Nicht gerade ein Stammplatz für Berber. Eher für ihre Sozialarbeiter. Doch gut platzierte Werbung, Presse und vor allem die Obdachlosen selbst tragen die Geschichte von den regelmäßigen Festtagsessen für ein paar Märker durch die ganze Stadt. Hierfür gibt es schließlich „Zinken“, wie die geheime Zeichensprache der Vagabunden, Bettlerinnen und Handwerksburschen auf Häuserwänden heißt. Eine Art Pi mit einer Tasse drauf – das Logo des Restaurants – soll seit jeher den herumziehenden Kollegen Auskunft geben: Dies ist ein gastfreundliches Haus.

Fällt der Geruch der Straße mal zu streng aus, kann einer vor Suff kaum noch stehen, drückt Geschäftsführer Jörg Gillenberg ihm fünf Mark in die Hand und schickt ihn ins Bismarckbad oder gleich nach Hause. Was immer das dann auch heißt. „Das ist hier keine Suppenküche oder gar eine Arche Noah für Freaks“, betont Gillenberg. Zwei Jahre warb er für die Idee, bis nach zahllosen Benefizveranstaltungen hunderttausend Mark Anschubfinanzierung zusammen waren.

Ein „Großer Zinken“ sollte es eigentlich werden: mit einer Ausbildungsküche für zwanzig Frauen. Für die Hälfte muss es jetzt reichen. Die monatlichen Kosten „in Höhe eines Mittelklassewagens“ sind auch so hoch genug. Miete, Strom, Einkauf. Auch Chefkoch Jamal, der einst dem Jetset in St. Moritz Allerfeinstes zubereitete, wird aus der Geschäftskasse des „Kleinen Zinkens“ bezahlt. Die Lohntüte der Angestellten wird vom Arbeitsamt und der Sozialbehörde gefüllt. Keine ABM-Stellen, sondern „degressiv bezuschusste Transferarbeitsplätze“ wie der studierte Kulturmanager Gillenberg so korrekt wie langwierig differenziert.

Das gelbgetünchte Lokal mit den aufgemalten Putten und kühner Scheinarchitektur will ein „wirkliches Szenelokal“ werden. Und ein gewinnbringendes obendrein. Kein leichtes Geschäft. Denn Alkohol wird hier „ohne Preisstaffelung“, wie die Speisekarte dezent und recht kleingedruckt vermerkt, ausgeschenkt. Und wenn zu viele nur mit ihrem guten Namen zahlen, können am Ende zu wenige davon leben. „Das Gesetz der Markwirtschaft gilt auch für uns“, sagt Gillenberg mit dem ins Unendliche gerichteten Blick der Entschlossenen, bevor sie an die Börse gehen oder noch eine Firma aufkaufen. Neben dem Gaststättenbetrieb bietet der „Kleine Zinken“ derzeit neun ehemals langzeitarbeitslosen Frauen einen Job in Küche und Service. Frauen mit „schwierigen Biografien“, wie Gillenberg diskret hinter der Hand hervornuschelt. Schwierig wie das Leben von Brigitte, die gerade am Nachbartisch eine Poulardenbrust kredenzt und dabei strahlt, als mache sie jemanden zum Lottogewinner.

Im berühmten Auerbachs Keller hat die heute Vierzigjährige „die Gastronomie gelernt“. Damals saß ihr Vater wegen Sabotage im Knast. Sie wollte weg aus Leipzig und stellte einen Ausreiseantrag. Eines Nachts klingelte es an ihrer Wohnungstür. „Das war die Stasi“, sagt sie und wischt sich so fest die Hände an der Schürze ab, als könnte sie die Staatsicherheitsbeamten so nachträglich noch zerquetschen. „Mitten im Wald setzten die mich einfach aus. So kam ich in den Westen.“ Dort „klappte es nicht“. Mit dem Geld nicht, der Arbeit nicht, „und auch nicht mit der Ehe“. Scheidung, Wohnungssuche, Sozialamt, der übliche Dreiklang. Ihre Kinder zog sie allein auf und blieb meist zu Hause. Sohn und Tochter sind inzwischen längst erwachsen.

Ein Job musste also her. „Damit man wieder zu was nütze ist“, sagt Brigitte und knickt jetzt mit ihren kräftigen Fingern einen Bierdeckel auf Briefmarkengröße. Früher hatte sie manchmal zweihundert Mark Trinkgeld am Abend von ausgelassenen Wessis, die beim Besuch in dem berühmten Faustlokal mit Westmark aus der Spesenkasse wedelten. Heute sind es ganze fünf Mark extra. Doch Brigitte geht es nicht nur ums Geld: „Ich brauche einfach action.“ Wenigstens dieser Wunsch wird ihr sofort erfüllt: „Ey! Hallo! Brigitte! Pennst du? Die Algerischen Lammwürstchen sind fertig!“ bellt es aus der Küche. Brigitte strahlt und springt auf.

Unter den Frauen ist das größte Problem, so Gillenberg, „dass viele nichts mit ihresgleichen, also mit anderen armen Leuten, zu tun haben wollen“. Wer ein trauriges Zuhause hat, will sich nicht von noch traurigeren Existenzen am Arbeitsplatz „herunterziehen“ lassen. Auch bei den Obdachlosen gibt es Ständeregelungen. Hier wird genau geschaut, „wer wie hart drauf oder wie arm dran ist“. Vor allem Frauen werden „oft wie der letzte Dreck“ behandelt. Auch ein Grund, warum der „Kleine Zinken“ sich exklusiv um langzeitarbeitslose Frauen kümmert.

Dass sich immer alle um einen kümmern wollen, geht Susanne, Dieters Freundin, manchmal auf die Nerven. „Bei der Essensausgabe in den Suppenküchen muss man mit demütig gesenktem Haupt seinen Napf entgegen nehmen, und dann rückt dir gleich so ein Sozialarbeiter auf die Pelle.“ Außerdem sind da immer so viele Fixer. Da muss sie aufpassen, sich „nix zu holen“. Schließlich hat sie starke Neurodermitis. „Da weiß man nie“, sagt sie und wehrt mit ihren schmalen Händen Millionen imaginärer Erreger ab.

Im „Kleinen Zinken“ haben Dieter, der einstige Industriemechaniker, und Susanne, die ehemalige Fremdsprachensekretärin, ihre Ruhe. „Hier können wir beide ein Rendezvous haben oder unsere Freunde treffen“, sagt Dieter und legt besitzerstolz den Arm um Susanne. Die muss auf einmal glucksen, als liefere ihr Dieter gerade ein Feuerwerk der Gags. „Du bist mir einer“, prustet sie, „wir haben doch gar keine Freunde.“ Sie muss auf Toilette. Die Lachtränenspuren beseitigen. Außerdem hat sie sich verschluckt.

Dieter blättert im „Zinken“-Gästebuch und liest Liebesgrüße an Ricky Martin und Julio Iglesias vor. Darunter steht: „... sehr leckeres Essen. Nur da sollten mehr Rosinen in der Soße sein.“ Als Susanne zurückkommt, ist ihr noch etwas Wichtiges eingefallen. Wenn sie „so richtig essen geht“, sagt sie jetzt ganz ernst, fühlt sie sich „fast normal“. Fast wie die Leute, die nach dem Mittagessen wieder zur Arbeit gehen, sich über den Chef ärgern, über die Steuern schimpfen und ihre Frau anrufen, wenn sie etwas später zum Abendbrot kommen als sonst. Fast also „wie die Leute am Tisch nebenan“.

Birgit Glombitza lebt als freie Journalistin in Hamburg. Ihr Schwerpunkt: Filmkritik