Nur Gebete statt Demos

Im „Wendeherbst 89“ spielten die Berliner Kirchengemeinden eine entscheidende Rolle. Vom Aufbruchsgeist ist wenig geblieben – manchmal nur Larmoyanz  ■   Philipp Gessler

„Es gibt keine Obrigkeit außer

von Gott“

(Paulus, Römerbrief, 13,1)

„Ihr seid zur Freiheit berufen“

(Paulus, Galaterbrief, 5,13) Der Liturgische Kalender hat keine Chance. Da kann sich Markus Bräuer, der Pfarrer der Zionskirche im Berliner Stadtteil Mitte, noch so mühen, dieses wichtige Thema zu vermitteln: Ein Junge wirft mit dem Gemeindebrief, einer spielt mit einem Maschinengewehr aus Luft ein Massaker unter seinen Mit-Konfirmanden ... nach kurzem Drängen seiner Schützlinge erfüllt Pfarrer Bräuer fast dankbar sein Versprechen, den Kirchturm zu besichtigen. Und so stehen wenig später zehn junge Christen in 50 Metern Höhe neben drei alten Glocken, der Wind pfeift durch neogotische Rosetten, die Dächer Berlins schimmern in der Sonne. Kirche kann schön sein.

Aber sie war einmal mehr: Die Zionskirche, die Gethsemane-Kirche und einige andere Gemeinden im Zentrum der Hauptstadt waren Brutstätten der Opposition in der DDR (s. unten). Vor zehn Jahren spielten sie eine große Rolle in der „friedlichen Revolution“, die das SED-Regime hinwegfegte. Doch was ist vom Aufbruch zehn Jahre danach geblieben? Weht er noch, dieser (Heilige) Geist?

„Man kann auch sehr unreligiös übers Christentum reden“, zitiert Bräuer in seinem Büro Dietrich Bonhoeffer, der hier „in Zion“ 1931/32 als Vikar einige Monate wirkte und 1945 von den Nazis als Widerständler hingerichtet wurde. Ein vergrößertes Foto des Theologen mit seinen Konfirmanden aus der Zionsgemeinde hängt über Bräuers Schreibtisch.

Der 32-Jährige ist der Ansicht, dass sich einiges aus der Wendezeit überlebt hat: „eine Offenheit in der Gemeinde, sich über die klassischen Arbeitsfelder von Kirche hinaus zu öffnen“. So führt etwa eine Theatergruppe in der Kirche das Stück „Krieg – Ich krieg Zustände“ auf – sechs Monate nach dem Nato-Bombardement auf Jugoslawien. Die Kirche hat 1.500 Plätze und ist an Sonntagen mit etwa 30 Gläubigen so leer wie bei normalen Gottesdiensten vor zehn Jahren. Voll war sie auch nur zu bestimmten Anlässen, etwa wenn es eine Andacht für Inhaftierte gab.

Indirekt hat die Zionsgemeinde von ihrem politischen Engagement der damaligen Zeit profitiert. Für zuziehende Wessis ist die Gegend um die Zionskirche heute ein „In“-Viertel der Hauptstadt. Drei Viertel der Gemeindemitglieder sind zugezogen, mehr als die Hälfte aus dem Westen – und „Wessis“ können oft noch etwas mit Kirche anfangen. Die Zahl der „Gemeindemitglieder“ hat sich von 800 im Jahr 1989 auf knapp 1.800 ver-größert. Der Altersschnitt liegt bei 33 Jahren.

Aber Aufbruch? „Nach der Wende“, erinnert sich Wolfgang Hensel, „hat sich die Sache ziemlich schnell verflüchtigt.“ Der 49-jährige Elektronikfacharbeiter war damals im Gemeindekirchenrat. Neben seinem Wohnzimmersessel liegt die Landeskirchenzeitung griffbereit.

In der legendären „Umweltbibliothek“ der Zionskirche, einem Zentrum der Opposition, waren vor allem Leute von außerhalb, die im Zentrum der Stadt den Schutz der Kirche suchten. Die Bibliothek zog nach der Wende weiter. Das normale Engagement der Gemeindemitglieder blieb. Heute sei es „eine Gemeinde wie jede andere“, sagt Hensel. Aber: „Es hängt alles noch viel mehr am Geld.“

Hans Simon war damals Pfarrer der Zionsgemeinde – „ein Revoluzzer“, wie ihn Hensel liebevoll nennt. Der bärtige Mann, der so schielt, als vermute er noch überall die Stasi, meint, die Kirche sei damals „instrumentalisiert“ worden. Das findet er in Ordnung: „Wo es um Freiheit und Gerechtigkeit geht, da muss sie sich instrumentalisieren lassen.“

Dass die Kirchen damals so voll waren, habe auch mit „Sensationslust“ zu tun gehabt. Und dass sie sich danach „ganz schnell“ leerten, habe ihn nicht enttäuscht: „Ich habe mir da nichts vorgemacht.“ Manche Gemeinden, nicht die Amtskirche, hätten eben nur für eine bestimme Zeit diese besondere Schutzfunktion gehabt. Vom Geist der Wendezeit, glaubt er, sei „nichts“ übrig geblieben. Die Ex-Protestgemeinden unterschieden sich von anderen Kirchen heute nicht mehr: „Der Mensch ist unheimlich vergesslich.“

Pfarrer Achim Goerz kam zur Wendezeit in die Bartholomäus-Gemeinde. Aus ihr stammten die Protagonisten von „Demokratie jetzt!“, der intellektuellsten Gruppe der Bürgerbewegung von 1989, darunter die späteren Politiker Wolfgang Ullmann und Konrad Weiß. „Es ging mir alles ein bisschen schnell“, erinnert sich Goerz, „Ich wollte an die Front, doch kaum bin ich da, bricht sie zusammen.“

Die Gruppen, die damals den Schutz der Kirche brauchten, seien abgezogen, das sei natürlich. Der heutige Gottesdienstbesuch bewege sich „im Berliner Mittelfeld“. Es sei zunehmend weniger etwas Besonderes, hier zu sein, sagt Goerz: „Man kann sich dafür ja auch nichts koofen.“

Ähnlich nüchtern sieht es auch Pfarrerin Elisabeth Eschner. Die 61-Jährige war schon vor zehn Jahrerin Pfarrerin der Gethsemane-Kirche in Prenzlauer Berg – „fast schon ein Mythos“, wie Goerz sagt. Hier fanden im Oktober 1989 die wichtigsten Andachten statt, ein Meer von Kerzen leuchtete den damals Mächtigen heim.

„Das war eine lebendige Zeit“, schwärmt die ruppig-warme Frau, „so war es vorher nicht und nachher nicht.“ Jeder habe damals gewusst, dass dies außergewöhnlich war. „Dann kam der 9. November, und dann war die Kirche leer.“

Schließlich ist da noch Stephan Hilsberg, Pfarrerssohn und der erste Chef der Ost-SPD. Der bärtige Mann ist bildungspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und hätte es sich nicht träumen lassen, dass er mal ein Büro Unter den Linden haben würde. Wie viele Ex-Bürgerrechtler aus der Kirche ist er Politiker geworden. Nur noch gelegentlich hat er Zeit, in seine Heimatgemeinde, die Golgatha-Kirche, zu gehen. Die Amtskirche, sagt er bitter, habe mit den Bürgerrechtlern damals „im Grunde nichts anfangen können“. Und heute herrsche Frust. „Larmoyanz ist gar kein Ausdruck.“ Die Kirche habe kein Verhältnis zur offenen Gesellschaft gefunden, am Ende habe damals alles an einzelnen Pfarrern gehangen. Und: „In Golgatha ist nichts mehr los.“

Vera Iber und Sylvia Uhlmann, zwei Konfirmandinnen von Pfarrer Bräuer, gehen nach der Turmbesteigung nach Hause. Nein, was hier vor zehn Jahren los gewesen sei, das wüssten sie nicht. Sie kommen am früheren Gemeindehaus vorbei. In dessen Keller war früher die Umweltbibliothek. Er dient heute als Lagerraum für ein Grafikstudio.