Zurück in der Stadt der Qualen

Bremen wagt die Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit. Finanziert über einen Hilfsfonds, in den auch private Firmen eingezahlt haben, lädt sie ehemalige Zwangsarbeiter in die Stadt ein  ■   Aus Bremen Dorothee Krumpipe

Boris Kalaschnikow geht es vor allem um ein Stück Papier: seine Arbeitsbescheinigung. Drei Jahre lang hatte der Ukrainer als Zwangsarbeiter für die Borgward-Rüstungswerke in Bremen Militärfahrzeuge hergestellt. Die Firma existiert schon lange nicht mehr. 15 Jahre nach dem Konkurs wurden die Akten vernichtet – einen Nachweis, dass er hier gearbeitet hat, gibt es damit nicht mehr.

Jetzt steht der 71-Jährige an dem Ort, wo die Borgward-Werke früher waren. Nur die Straße, die damals zum Lager führte, erkennt er wieder. Sonst ist alles anders: Gebäude, Firmen, Straßen. Kalaschnikow erzählt von Borgward. „Alles wurde ständig überwacht, überall Gewehre.“ Angst hatte er, wenn er was falsch gemacht hatte, Ausschuss produzierte. „Dann kam man in ein Zimmer und wurde verprügelt.“ Er bricht ab, ringt nach Luft.

Nach mehr als 50 Jahren sind Kalaschnikow und weitere 18 ehemalige ZwangsarbeiterInnen aus der Ukraine in Bremen zu Gast – in der „Stadt der Qualen“, sagte einer von ihnen. Eingeladen wurden sie von Sozialsenatorin Hilde Adolf (SPD). Bis Sonntag werden sie bleiben und sich die ehemaligen Lager und Arbeitsstätten ansehen – die Chance für Kalaschnikow, vor Ort nachzufragen, was mit seinen Papieren passiert ist.

Hartmut Müller, Leiter des Staatsarchivs, hat die Reise vor einem Jahr initiiert: „Es musste einfach etwas passieren.“ Telefonate hin und her, die Grünen starteten eine Anfrage im Senat. Und die Idee für einen Hilfsfonds fand schließlich auch in der Bremischen Bürgerschaft Unterstützung. 25.000 Mark wurden von privaten Firmen gesammelt. Das Sozialressort legte den gleichen Betrag noch einmal drauf. Dieser Fonds soll auch in den nächsten Jahren ehemalige Zwangsarbeiter nach Bremen holen. Aus Polen oder Russland. Ein symbolischer Akt sei das – „Wiedergutmachung können wir nicht leisten, das muss von anderer Stelle kommen“, sagt Müller. „Wir wollen die Erinnerung an das Unrecht wach halten, zeigen, dass die Bürger dieser Stadt heute anders denken“, sagte Sozialsenatorin Hilde Adolf zum Empfang im Rathaus. Zwar bestehen seit langem Kontakte zu ehemaligen Zwangsarbeitern aus Frankreich, dies ist aber die erste Gruppe von ehemaligen Ostarbeitern in Bremen. Schätzungsweise 75.000 Zwangsarbeiter wurden insgesamt in Bremen eingesetzt, nicht nur von der Industrie, auch von Landwirtschaft, privaten Haushalten und der Stadt. Jeder Fünfte in Bremen war Zwangsarbeiter, rechnet Müller.

Schwere Erinnerungen. Trotzdem: „Viele wollten noch einmal zurück, um zur Ruhe zu kommen“, sagt Müller. Nikolaj Suchowoi gesteht, dass er ein bisschen Angst hatte vor der Reise nach Bremen. „Es ist schwer, die Gefühle auszudrücken“, sagt er, als er vor den Bunkern steht, die er mitgebaut hatte. 74 Jahre ist Suchowoi jetzt. „Bremen früher und heute, das sind zwei Extreme.“ 12 bis 14 Stunden pro Tag hatte Suchowoi an den Hochbunkern geackert. „Pausenlos. Bis zum Umfallen. Sonst hätte es Stockschläge gegeben.“ Suchowoi blickt ganz weit weg. Zwar hat er die Bunker gebaut – Schutz suchen durfte er darin aber nicht: Die waren für andere da. 200 Gramm Brot, 10 Gramm Margarine bekam er pro Tag zu essen. „Die Zahlen vergesse ich nicht“, sagt er, „bis zum Tod.“

Der Bremer Verein „Zwangsarbeit Walerjan Wrobel“ kümmert sich um die Organisation dieser Reise. Und auch sonst erledigen die 15 Ehrenamtlichen die Korrespondenz mit ehemaligen Zwangsarbeitern, die nach Arbeitsnachweisen, Entschädigungen, Hilfe fragen. Daraus entstanden die Kontakte zu den 19 Ukrainern, die jetzt gekommen sind.

Fast täglich bekommt der Historiker Müller Briefe von ehemaligen Zwangsarbeitern. Die meisten wollen Arbeitsnachweise, um ihre Rente ein bisschen aufzustocken. Zehn Mark mehr macht das im Monat, schätzt Müller. „Aber bei Renten von 40, 50 Mark ist das schon viel.“ Die Aktenlage in Bremen ist schwierig, sagt der Historiker. Viele Firmen existieren heute nicht mehr, personelle Nachweise sind lange schon vernichtet. Manchmal findet Müller im Einwohnermeldeamt einen Hinweis. Aber die Ostarbeiter galten als Untermenschen, da wurden kaum Akten geführt.“

Bei „glaubwürdigen Aussagen“ stellt Müller die Arbeitsnachweise trotzdem aus. Das akzeptieren die osteuropäischen Behörden für die Aufbesserung der Rente. Für Entschädigungsgelder wird das allerdings nicht reichen: „Wenn das Nachweisverfahren so differenziert ist wie bei VW“, sagt Müller, „dann werden die ehemaligen Ostarbeiter aus Bremen kaum eine Chance haben.“ Immer wieder wird er nach Entschädigungsgeldern gefragt. Auch die 19 Gäste verfolgen die Debatte. „Aber bisher gab es nur Diskussionen“, sagt Suchowoi: „Vielleicht kriege ich irgendwann mal was, aber dann lebe ich sicher nicht mehr.“

Geld hat Boris Kalaschnikow nie gesehen für seine Arbeit in den Maschinenhallen. Nikolaj Suchowoi hat einmal 20 Mark bekommen – „dann hat die Firma gesagt, sie hätte kein Geld mehr“. Zwangsarbeiter aus Osteuropa hatten es am schlimmsten: Sie standen in der Hierarchie der Nationalitäten ganz unten, berichtet Müller. Der „Lohn“, der ihnen formell zustand, wurde gleich mit der Unterbringung verrechnet. Im Vergleich zu Westeuropäern hatten sie die schwerste Arbeit und die schlechteste Versorgung. Die meisten der 19 Ukrainer wurden mit 14, 15 Jahren gefangen genommen. Boris Kalaschnikow zum Beispiel wurde auf dem Schulweg in Kiew aufgegriffen und in den Zug nach Bremen gesteckt. Vier Tage später war er bei Borgward. Direkt in den Hallen. Das war vor 57 Jahren.

Natalia Shdan-Filimonowna fällt es schwer daran zu denken: „Mit hunderten Jugendlicher wurde ich im Wald zusammengetrieben“, dann in die Kaserne, dann in die Waggons gepackt. Sie musste in Bremen in einer Bekleidungsfabrik arbeiten und nähte als 16-Jährige Uniformen für die Front. Kontakt nach Hause hatte sie nie. Das war verboten, sagt sie. Nur in den letzten Kriegsmonaten wurden das Verbot manchmal gelockert.

Als Natalia Shdan-Filimonowna 1945 zurück nach Lugansk kam, war „niemand mehr da. Niemand“, sagt sie und weint. Längst nicht alle kamen gleich nach Hause: Als Maja Salimowna 1945 aus dem KZ frei kam, „war das nicht der Weg nach Hause auf die Krim, sondern die Deportation nach Mittelasien.“ Ostarbeiter waren „doppelt Opfer“, berichtet Müller. Nach der Befreiung kamen viele nach Sibirien – als Strafe für die „Zusammenarbeit“ mit den Deutschen.

Viele haben versucht, die Jahre der Zwangsarbeit zu verschweigen. Nikolaj Suchowoi zum Beispiel hat zu Hause in der Ukraine nie erzählt, dass er in Deutschland war. „Das ist ein Fleck“, sagt er, ein Makel. Erst nach Gorbatschow hat er angefangen zu erzählen. „Aber die Jugend heute denkt doch, das sei ein Märchen.“