Die Regierung entdeckt das Getto

Mit einem Sonderprogramm will sich Jugendministerin Bergmann um die sozialen Brennpunkte für Kinder kümmern. Soziales Trainingsjahr, Anwälte für Zuwandererkids – und viel Geld sollen helfen    ■ Von Nicole Maschler

Die Jugendhilfe berücksichtigt auch die räumliche und gesellschaftliche Entwicklung eines Wohngebiets“

Berlin (taz) – Anfang des Monats hatten Kinderärzte im Berliner Bezirk Wedding Alarm geschlagen. Sie warnten vor einer Verslumung des Stadtteils, wo ein Fünftel der Menschen von Sozialhilfe lebt. Armut, schlechte Wohnverhältnisse, Streit in der Familie überforderten immer mehr Kinder – und vor allem die Eltern. Die Folge, die nicht nur im Wedding, sondern auch in anderen deutschen Gettos zu beobachten ist: Gewalt und Drogenkonsum unter den Jugendlichen nehmen zu. Immer öfter fallen sie durch das soziale Netz. Jeder zehnte Jugendliche kehrt der Schule den Rücken, die meisten Abbrecher stammen aus Problemgebieten. Nun hat auch die rot-grüne Bundesregierung das Elend deutscher Kinder entdeckt. Mit dem Programm „Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten“ will Bundesjugendministerin Christine Bergmann (SPD) gegensteuern. Vernetzung lautet ihr Zauberwort: Stärker als bisher sollen Arbeitsämter, Betriebe, Schulen, Kommunen und freie Träger kooperieren. „Der neue Ansatz besteht darin, dass Jugendhilfe auch die räumliche und gesellschaftliche Entwicklung eines Wohngebiets berücksichtigen soll“, sagte Ministerin Bergmann gestern in Berlin, als sie das neue Programm vorstellte. Die Idee hinter der Initiative ist, dass auch der Bund nun seine Aufmerksamkeit auf die sozialen Brennpunkte richtet – um von Einzelmaßnahmen weg- und hin zu einem Gesamtkonzept zu kommen.

Die Ministerin und ihre bundesstaatlichen Sozialarbeiter sind in fast allen Großstädten fündig geworden. In der schnieken bayerischen Landeshauptstadt München heißt der Ort der Verwahrlosung „Hasenbergl“. In Hamburg ist es der Stadtteil Großlohe. Im Wiesbadener Westend leiden Kinder und Jugendliche unter der sozialen Spannung, in Köln Chroweiler ist es nicht anders.

Aber nicht nur soziale Brennpunkte in Städten hat der Aktionsplan berücksichtigt, auch an die strukturschwachen ländlichen Regionen haben die Initiatoren gedacht. Den Akteuren vor Ort verspricht Bergmann vor allem eines: einen Batzen Geld. 15 Millionen Mark will die Ministerin aus ihrem Haushalt bezahlen, weitere 60 bis 80 Millionen stammen aus dem Europäischen Sozialfonds der Arbeitsämter und Kommunen sowie dem Kinder- und Jugendplan des Bundes. Vorhandene Kapazitäten besser nutzen, so lautet das Motto, das sich wie ein roter Faden durch das gesamte Konzept zieht. In einem bundesweiten Wettbewerb „Fit für Leben und Arbeit“ will Bergmann vorhandene Projekte auszeichnen, in den betroffenen Stadtteilen sollen Jugendmanager Hilfsangebote von Schulen, Vereinen und mobilen sozialen Diensten zusammenführen.

Doch gerade wenn es um Ausbildung und Job geht, sind viele Jugendliche mit den bisherigen Methoden nicht zu erreichen. Regelmäßige Arbeitszeiten sind für sie ein Fremdwort. In Anlehnung an das Freiwillige Soziale Jahr hat das Ministerium daher das so genannte Soziale Trainingsjahr entwickelt. Seit Anfang Oktober läuft in dreizehn Bundesländern versuchsweise folgendes Projekt: In Krankenhäusern, Heimen, Sozialstationen oder Sportvereinen leisten die Jugendlichen freiwilligen Dienst. Das Ziel: jungen Leuten, die bisher keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz gefunden haben, Berufspraxis zu vermitteln. „Die Jugendlichen können dort soziale Schlüsselqualifikationen erlangen“, sagte Bergmann. In 40 Projekten sollen rund 1.000 Jugendliche zum Einsatz kommen.

Spezielle Anlaufstellen für junge Ausländer ergänzen die Maßnahmen. Dort will die Ministerin, die als Senatorin in Berlin die schwierige Situation multikultureller Zentren kennen lernte, Anwälte für Zuwanderer etablieren – im übertragenen Sinn. In Stadtteilkonferenzen genau wie bei der Kinder- und Jugendhilfeplanung sollen die Sozialarbeiter die Interessen ihrer Schützlinge vertreten.

Jugendarbeiter vor Ort begegnen dem Aktionsplan zunächst mit Skepsis: „Wir haben uns auch bisher schon um Vernetzung bemüht“, sagte etwa Sylvia Kahle der taz. Kahle ist so genannte Quartiersmanagerin am Kottbusser Tor in Kreuzberg, einem anderen Berliner Problemviertel. Und in der Tat könnten sich an diesem Punkt die Bundes- und die Landesinitiative überschneiden. Seit etwa einem Jahr probt Berlin nämlich einen ganz ähnlichen Ansatz: Unter Berücksichtigung der städtebaulichen Struktur sollen Quartiersmanager sich darum kümmern, dass die sozialen Spannungen früh erkannt – und entschärft werden.