Explosion der Stille

Heute liest der ewige Nobelpreiskandidat António Lobo Antunes im Literaturhaus  ■ Von Ralf Poerschke

Dieses Jahr konnte er ihn wirklich nicht bekommen. Es war nicht wegen Günter Grass – welchen er im Übrigen schätzt –, beileibe nicht. Es lag auch nicht an seinem neuen Roman, der – okay – nicht großsprecherisch ein komplettes Jahrhundert verhandelt, sondern – wie immer – auf die Ausfluchtlosigkeit der Gegenwart insistiert, je stärker, desto mehr seine Figuren sich in übermächtigen Erinnerungen verlieren – eine „große elastische Gegenwart“, wie er sie nennt, um zu betonen, wie langsam Vergangenheit vergeht. Nein, es lag an Portugal: Im Vorjahr hatte sein Landsmann und 20 Jahre älterer Antipode, José Saramago, den Literaturnobelpreis erhalten. Zweimal Lusitania hintereinander geht selbstredend nicht an, aber so war wenigstens erst mal Ruhe um den einigermaßen öffentlichkeitsscheuen António Lobo Antunes, der mit dem ihm eigenen Sarkasmus seine Dauerfavoritenrolle hinsichtlich der Auszeichnung aus Schweden schon mit „Rufschädigung“ kommentierte.

Vielleicht passt es dazu, dass Anweisungen an die Krokodile, der aktuelle in deutscher Übersetzung vorliegende Roman des 57-Jährigen, ein im Vergleich zu seinen Vorgängern stilles Buch ist, wenn man das so sagen kann, zumal dieser lange, ruhige Fluss memorierter Szenen und Bilder mit absurder Zwangsläufigkeit in einer gewaltigen Explosion mündet. Wie in Portugals strahlende Größe (1998) umfasst Lobo Antunes' Darstellerchor vier Stimmen – Das Handbuch der Inquisitoren (1997) hatte noch schillernde 19 –, doch sind es ausschließlich Frauen, deren verflogene Hoffnungen und schwärenden Selbsthass der Autor mit bestürzend verfeinerter Sprachchirurgie zum Vorschein bringt. Dass keine familiären Bande bestehen, mildert die interpersonale Spannung: Mimi, Fátima, Celina und Simone sind Ehefrau, Patentochter, Witwe und Verlobte von Reaktionären, die sich nach dem Sturz des faschistischen Salazar-Regimes im April 1974 („Nelkenrevolution“) auf den Terrorismus verlegt haben. In einer dreistöckigen Villa warten sie alle dem Vollzug der finalen Anweisung entgegen, und dass Lobo Antunes erst auf Seite 284 (von 441) dem Leser diese Situation (halbwegs) enthüllt, ist nur ein Indiz für die dramaturgische Grandiosität der Anlage dieses Romans.

Dabei ist das grobkompositorische Prinzip denkbar einfach und transparent: Die 32 Kapitel regiert ein strenger Viervierteltakt, die Perspektiven wechseln sich in schöner Regelmäßigkeit ab. Jedes Kapitel konstituiert sich in seiner atemlosen Dichte durch die Behauptung eines einzigen Satzes (Ausnahmen bestätigen die Regel: manchmal fällt schon in den ersten Zeilen aus purer Selbstironie ein Punkt, und so nackt steht dann dort beispielsweise: „Und ganz unvermittelt, einmal angenommen, Coimbra.“), eine Behauptung, die fundiert ist durch eine ganz eigenständige rhythmisierende Interpunktion. In Lobo Antunes' inneren Monologen sind fern scheinende Traumata vergangener (Kinder-) Zeiten und die Unbehaglichkeit der Erzählgegenwart stets nur durch permeable Kommata getrennt, und Spiegelstriche kennzeichnen Brocken wörtlicher Rede, die von außen diese Manie (und diese Stille) stoßweise durchsetzen (und übertönen).

Regelmäßig merken Kritiker (oder andere Schrifsteller) an (um überhaupt etwas Kritisches anzumerken?), Lobo Antunes treibe es mit seiner unwidersprochenen Brillanz zu weit, „mitunter zwingt der Autor den Leser zu lähmender Bewunderung für seine Meisterschaft“ (Albert Ostermaier vor einem Jahr im Spiegel), mit seiner beschämend genialen Bilderfindungswucht schieße er übers Ziel hinaus und verdecke mithin womöglich Inhalte. In den Anweisungen an die Krokodile muss selbst diese Kritik fehl gehen. Die ausufernde Sprachgewalt früherer Werke wirkt zurückgenommen, stattdessen finden sich fast bescheiden orchestrierte Schilderungen von Zirkusbesuchen, Wachteljagden, Angelausflügen, oder im Kopf der schwer krebskranken Mimi spuken plötzlich ganz abstrakt Rechenaufgaben.

Dergleichen dient Lobo Antunes freilich dafür, die Feinstrukturen von Macht und Gewalt noch schärfer zu fokussieren als bisher, noch tiefer in die verwinkelten Psychen seiner Figuren einzudringen. Sexueller Miss-brauch und das kindliche Erleben des mütterlichen Ehebruchs sind nur zwei Themen, die er dergestalt mi-kroskopisch seziert. Diese Frauen sind keinen Deut mit sich identisch, ihre Namen sind ihnen fremd, sie erkennen sich nicht im Spiegel oder halten sich für höchstens 18; ihre letzte Hoffnung beruht auf vollkommener Selbstauslöschung.

Dass der bekennende Linke Lobo Antunes im Jubiläumsjahr der Nelkenrevolution seine Untersuchung der (politisch-moralischen) Seele Portugals ausgerechnet im Umfeld heillos gescheiterter rechter Putschisten fortsetzt, bringt seinen Pessimismus angesichts aktueller Entwicklungen unmissverständlich zum Ausdruck. Sein Roman-Kosmos aber, der auf eine sehr subjektive und subtile und auf jeden Fall subversive Weise nicht viel weniger als deckungsgleich ist mit der jüngeren portugiesischen Geschichte, hat sich dabei um ein weiteres bedeutendes Stück geschlossen. Während der Nobelpreis weiter näher rückt.

heute, 20 Uhr, Literaturhaus, es übersetzt Maralde Meyer-Minnemann; Signierstunde, heute, 16.30 Uhr, Heinrich-Heine-Buchhandlung, Grindelallee 26; António Lobo-Antunes: „Anweisungen an die Krokodile“. Roman. Luchterhand, München 1999, 441 Seiten, 48 Mark