Spiel mit der Integration

■  Zwei „Ossis“ und einem „Wessi“ fällt zum Thema „Zehn Jahre Mauerfall“ Nachdenkliches und Skurriles ein: Integrationsspiele in der Schule und seltsame „Jokes“ über die DDR-Vergangenheit

ir sind hier am Checkpoint Charlie – ist das, zehn Jahre nach dem Mauerfall, ein besonderer Ort für euch?

Martin: Ich finde es nicht gut, dass hier mit Pflastersteinen im Asphalt an die Mauer erinnert wird. In der Gesellschaft wird der Ost-West-Konflikt schon wieder so extrem gesehen, auch in der Schule merkt man das unheimlich stark. Da sind solche Linien übertrieben, man sollte keine neuen Mauern durch Berlin ziehen.

Dorothea: Checkpoint Charlie sagt mir gar nichts, denn ich habe zu DDR-Zeiten die Grenze nie gesehen. Meine Eltern haben auch nach 1989 lange Zeit immer noch ein ungutes Gefühl gehabt, in den Westen zu fahren. Ihnen geht es auch jetzt teilweise noch so, dass sie sich daran erinnert fühlen.

Warum hatten deine Eltern Hemmungen?

Dorothea: Wegen der Erinnerung, die da hochkam. Das war für sie bedrückend.

Du, Martin, hast gesagt, dass in der Schule der Ost-West-Konflikt noch stark ist – warum: Ihr ward doch beim Mauerfall alle erst acht, neun Jahre?

Martin: Ich weiss auch nicht, warum. Auf jeden Fall war das eine der ersten Fragen in der Schule: Wer kommt aus dem Westen, wer aus dem Osten. Da waren zwei aus dem Westen, da hieß es: Da können wir ja Integration spielen.

Sebastian: Solange es nur solche Witze sind, ist das ja okay. Die mache ich ja auch. Aber ich habe neulich in Italien eine Jugendgruppe betreut: Da war die eine Hälfte aus dem Osten und die andere aus dem Westen. Die haben sich in der Kennenlernphase richtig gezofft. Da hieß es: Ihr Wessis, ihr wisst ja nur alles besser. Ihr beutet uns aus. Und für die Wessis waren alle Ossis blöd und faul. Das fand ich richtig krass, denn das kenne ich so gar nicht. Ich habe mit Leuten aus dem Osten keine Probleme, für mich ist das alles eins.

Dorothea: Ich mache da keine Unterscheidung mehr: Der kommt aus dem Osten, der aus dem Westen. Gerade unter Jugendlichen merkt man das kaum noch.

Sebastian: Ich erinnere mich noch, wie ich 1989 mit meinem Vater mit einem riesengroßen Vorschlaghammer – ich konnte ihn kaum halten – etwas von der Mauer abgeschlagen habe. Das war schon irgendwie toll. Daran erinnere ich mich noch heute, wenn ich ans Brandenburger Tor komme.

Martin: Neulich, als die Straße des 17. Juni wegen einer Veranstaltung abgesperrt wurde, habe ich mich wieder an die Mauer erinnert: Das sah aus wie vor zehn Jahren – mit dem Unterschied, dass vor den Absperrgittern früher noch Stacheldrahtzäune und Panzersperren waren. Sonst erinnere ich mich an den Grenzübergang an der Invalidenstraße. Da bin ich zwei Wochen nach dem Mauerfall zum ersten Mal in den Westen. Meine Mutter wollte nicht sofort rüber. Sie war von der ganzen Sache überhaupt nicht begeistert. Sie hatte Abstand zu Westdeutschland, weiß nicht, warum.

Bedeutet euch der 3. Oktober irgendetwas?

Martin: Für mich ist der 9. November der entscheidende Tag, als die Mauer fiel.

Dorothea: Das ist aber eine Berliner Sache. Für mich ist der Tag, an dem alles Entscheidende passierte, der 9. Oktober. Weil das in Leipzig, wo meine Eltern Pastoren waren, 1989 der Tag war, an dem es um die Wurst ging. Für mich ist der 3. Oktober kein Grund zum Feiern. Nicht weil ich die DDR wiederhaben will, sondern weil ich das Gefühl habe, dass der Westen in den Osten gekommen ist. Wenige Dinge haben sich aus der DDR rüberretten können. Alles, was wichtig ist – Wirtschaft, Sozialstruktur – ist nur aus dem Westen übrig geblieben.

Was hätte erhalten bleiben sollen?

Martin: Das Metropol-Theater etwa. Es wurde zugemacht, der Fernsehturm zum Teil privatisiert – wir wurden ziemlich verkauft.

Sebastian: Man kann nicht jede Schweinezucht volkseigen lassen.

Martin: Aber doch das Kulturgut der Ostdeutschen.

Was meinst du mit „verkauft“?

Martin: Wir sind untergegangen. Volkseigentum wurde versteigert, das System aufgelöst.

Dorothea: Es hätte die Chance bestanden, 1989, mit beiden Staaten etwas Neues zu schaffen. Das ist nicht passiert. So wurde einfach das Grundgesetz aus dem Westen übernommen. Man hätte 1989, wie 1949 vorgesehen, eine gemeinsame Verfassung erarbeiten können. Man hat nie gesagt: Wir machen jetzt einen gemeinsamen gesamtdeutschen Staat. Wir haben in Ostdeutschland Erfahrungen mit Politik gemacht, die auch heute noch ganz wichtig sein könnten und die viel zu wenig zur Geltung gekommen sind.

Sebastian, kannst du das als „Wessi“ nachempfinden?

Sebastian: Für mich hat sich eigentlich durch den Mauerfall nichts geändert – außer dass die Mauer weg war und ich nun auch aus Berlin raus konnte. Ich kann es zumindest ansatzweise nachempfinden, etwa wenn Martin sagt, dass Theater geschlossen wurden. Auch mit der Verfassung, da hätte man etwas gemeinsam versuchen sollen. Sicherlich war nicht alles schlecht in der DDR. Es sieht wirklich so aus, als ob der Westen die DDR einfach geschluckt hat.

Könnt ihr euch noch erinnern, was das für ein Tag war, der 9. November?

Martin: Es war ein ruhiger Tag. Meine Mutter saß vor dem Fernseher und weinte. Dann lachte sie wieder und weinte. Ich kam überhaupt nicht damit klar. Ich konnte mit dem Begriff „in den Westen rübergehen“ nichts anfangen. Hatte ich nie gehört, das war so absurd.

Sebastian: Ich hatte damals Fernsehen gesehen, dann lief das in einem Laufband über den Schirm: Die Mauer ist auf. Da bin ich zu meiner Mutter und habe das erzählt. Sie hat nur gesagt, ich solle nicht so eine Scheiße erzählen. Dann hat sie Freunde im Osten angerufen. Alle haben gejubelt und geweint vor Freude. Ich wohnte in Frohnau, alles völlig umgeben von der Mauer. Sie war für mich etwas Natürliches, aber ich hatte immer unheimlichen Respekt davor. Wir konnten sie besprühen oder anfassen. Aber das habe ich nicht gemacht, da ich immer Angst hatte, da werde ich erschossen. Und es gab Schilder: „Sie verlassen den französischen Sektor“ – wobei ich mich immer gefragt habe: Warum verlassen? Da ist doch die Mauer!

Dorothea: Ich kann mich an den Tag selbst kaum erinnern. Ich weiß nur, dass da was war. Aber wir hatten auch keinen Fernseher. Aus der Tatsache, dass am 9. Oktober in Leipzig keine Schüsse fielen und dass es da nicht zu blutigen Auseinandersetzungen kam, folgerten wir: Jetzt ist es geschafft, jetzt ist es vorbei. Am 9. Oktober durfte ich selbst nicht auf die Demo. Das war viel zu gefährlich.

Ist die deutsche Einheit irgendein Thema für euch?

Sebastian: Für mich ist das überhaupt kein Thema.

Martin: Das ist überhaupt kein Thema unter den Schülern – höchstens, dass mal Witze gemacht werden. Ansonsten wird in der Schule der Nationalsozialismus durchgekaut, jahrelang. Zur Wende sind wir nicht gekommen. Meist lachen wir nur darüber: etwa über Sportvereine, die „Dynamo“ hießen, oder „Volkspolizisten“. Es ist witzig, sich zu erinnern.

Dorothea: Das ist schon ein spannendes Thema. Ich rede mit Freunden aus dem Westen oft darüber. Auch in meiner Familie ist es noch ganz oft ein Thema, weil sich dadurch für uns sehr viel geändert hat. Meine Eltern haben plötzlich als Pastoren anerkannte Berufe.

Die deutsche Einheit war kein Unterrichtsthema?

Sebastian: Bei uns nicht.

Dorothea: Wir hatten ein halbes Jahr deutsche Geschichte nach 1945. Das Spaßige war, dass es dabei vor allem um Westdeutschland ging. Ich musste zum Beispiel alle Bundeskanzler auswendig lernen, aber nicht die Staatsratssekretäre und so was. Am Ende haben wir einen komischen Bogen gemacht um die Wiedervereinigung, denn wir wussten ja, dass unsere Geschichtslehrerin vor 10 Jahren noch überzeugt war von der DDR-Sicht der Geschichte. Dadurch wurde alles etwas unglaubwürdig.

Sebastian: Was mir nur auffällt: Wenn man mit mehreren Leuten aus dem Osten abends zusammen ist, dann fangen die ab und zu an, ihre Pionierlieder zu singen. Ich fühle mich da doch ein bisschen ausgeschlossen.

Unterscheidet ihr noch im Freundeskreis zwischen Ossis und Wessis?

Sebastian: Es ist mittlerweile selbstverständlich, dass sich die Freundeskreise mischen. Gerade hier in Berlin aber fällt es Wessis bzw. Ossis leichter, in ihren Kreisen zu bleiben. Wenn aber ein Wessi nach Schwerin kommt, bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich unter Ossis zu begeben.

Dorothea: Wenn man hier neu herkommt, ist es sehr viel einfacher, sich gleich zu mischen.

Was ist gut, was schlecht gelaufen seit 1989?

Sebastian: Ich finde es schade, dass hier fast nichts mehr übrig ist von der Mauer. Man hätte noch ein größeres Stück stehen lassen sollen, um sich erinnern zu können.

Dorothea: Schlecht ist, wenn man versucht, die Mauer zu vergessen oder aus dem Stadtbild zu drängen. Wir sind Jugendliche, die mehr als die Hälfte ihres Lebens im Westen verbracht haben.

Sebastian: Warum sagst du: Im Westen verbracht?

Dorothea: Weil es so ist. Was ist denn vor der DDR noch übrig geblieben? Ich habe die prägenden Jahre im westlichen Reichtum verbracht, konnte Bravo oder Micky Mouse lesen. Ich bin im Prinzip ein Konsum-Kind. Ich habe einen anderen Umgang mit Geld als meine Schwester, die fünf Jahre älter ist. Ich gehe sorgloser damit um. Ich kann mich kaum noch daran erinnern, dass es im Konsum nichts zu kaufen gab.

Wann wird man aufhören, über Ossis und Wessis zu reden?

Dorothea: Wenn unsere Kinder groß sind.

Sebastian: Glaube ich nicht. Unsere Kinder kriegen das ja auch noch mit, wenn ihre Eltern sagen: Na, das sind ja Ossis. Oder: Jetzt muss ich da in den Osten.

Dorothea: Es wird auf jeden Fall noch lange darüber geredet werden – so wie jetzt über Hitler und den Nationalsozialismus, obwohl ich dies jetzt nicht mit der DDR vergleichen will. Unsere Kinder werden es wissen, so wie ich weiß, dass mein Vater aus dem Erzgebirge und meine Mutter aus Mecklenburg kommt. Ich glaube nicht, dass es da noch große Unterschiede gibt.

Was wollt ihr den Kindern über die Mauer erzählen?

Sebastian: Sie sollen auf jeden Fall wissen, dass es mal so etwas wie eine Mauer gab.

Martin: Von der Wichtigkeit vergleichbar dem Nationalsozialismus. Ich werde Erinnerungen aufheben, etwa Pionierhalstücher, die immer noch in meinem Schrank liegen. Das werde ich versuche, in Ehren zu halten und meinen Kindern zu zeigen.

Dorothea: Was meinst du mit „in Ehren halten“?

Martin: Ich werde sie mir nicht an die Wand hängen. Aber ich werde sie auch nicht wegschmeißen, weil sie ein wichtiges Stück Erinnerung sind.

Dorothea: Ich hoffe, dass meine Eltern noch leben, wenn meine Kinder anfangen, Fragen zu stellen, da ich ihnen nur wenige Fragen werde beantworten können. Es sind Stimmungen bei mir übrig geblieben und ein paar Kleinigkeiten aus der Schule, obwohl ich da auch immer eine Außenseiterrolle hatte als Pastorenkind.

Es gibt zur Zeit viele Sendungen zum Mauerfall: Interessiert euch das überhaupt noch?

Sebastian: Auf jeden Fall. Ich gucke mir so etwas immer gerne an. Ich erinnere mich dann, wie es war. Ich habe die Bilder zwar alle irgendwo schon einmal gesehen, aber trotzdem finde ich die immer wieder ganz eindrucksvoll.

Martin: Ich bin auch unheimlich interessiert daran. Damit ich die auch meinen Kindern oder Schülern – ich will Sozialpädagogik studieren – weitergeben kann.

Seid ihr mit diesem Interesse eher eine Ausnahme unter den Leuten eures Alters?

Dorothea: Ich weiß, dass ich in meinem Jahrgang unter den Schülern immer negativ aufgefallen bin, da ich so viele Fragen gestellt habe. Die sich dafür interessieren, das ist ein eher kleiner Prozentsatz unter den Jugendlichen. Die meisten Leute unseres Alters nutzen einfach die neue Zeit und finden es toll, versuchen, das Beste daraus zu machen und alles mitzunehmen, ohne groß darüber nachzudenken. Machen halt ihre Bankkauffrau – das ist normal, darüber freuen sie sich auch nicht mehr. Man denkt nicht mehr darüber nach, ob man seine Lehre in Schwerin oder Hamburg macht. Das ist völlig egal.

Das ist doch gut.

Dorothea: Teils, teils. Es ist gut, weil es dadurch Normalität geworden ist, dass keine Grenzen mehr bestehen. Andererseits ist es auch sehr schade, weil die Leute dadurch einen Teil ihrer Vergangenheit verdrängen. Am 7. Oktober bei einer Studienreise nach Griechenland zückten drei Jungs von uns die DDR-Fahne, sind damit über das Gelände des antiken Olympia gezogen und haben das Lied vom kleinen Trompeter gesungen. Dann haben wir einen Fahnenappell abgehalten. Das war schon krass. Die machen sich nur noch 'nen Joke draus. Das ist schade, wenn sie einerseits als selbstverständlich nehmen, dass wir alles kaufen können, und zum anderen machen sie sich einen Joke aus alten DDR-Erinnerungen – alles nur Feste der Fun-Generation.

Was werdet ihr am 9. November machen?

Sebastian: Ich werde nichts Besonderes machen, genauso wie ich auch zu Weihnachten nichts Besonderes mache. Ich werde mir nur denken: Mensch, jetzt ist das schon 10 Jahre her!

Dorothea: Ja, das denke ich diesen Herbst sowieso schon die ganze Zeit.

Martin: Die Zeit ist schnell vergangen.

Interview: Philipp Gessler