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: Was ist schon normal?

■ Der Friedenspreis und die Frage aller Fragen zum Schluss

Fritz Stern ist ein wacher, älterer Herr mit feinen Manieren und einem noch feineren Lächeln, das gelegentlich dezent ins Ironische spielt. Gestern wurde ihm bekanntlich der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Tags zuvor hatte er sich der Presse vorgestellt, es war eine dieser wenigen konzentrierten Veranstaltungen, die sich inmitten des Trubels der Frankfurter Buchmesse wie Inseln der Ruhe ausnehmen.

Stern musste in den Dreißigerjahren aus Deutschland emigrieren. Heute ist er in seinen Siebzigern, spricht perfekt Deutsch und blickt auf ein Lebenswerk zurück, das sich um die Erforschung der Ursachen des Nationalsozialismus dreht. Er ist der Historiker des deutschen Sonderweges. Ob es den tatsächlich gegeben habe, wisse er zwar nicht genau, sagte Stern auf der Pressekonferenz. Aber was er genau wisse, das ist, dass die deutschen Eliten um die Jahrhundertwende an diesen Sonderweg geglaubt hätten. Die Deutschen hätten gedacht, dass sie anders wären als die übrigen Völker. Und das habe dann, ob es nun tatsächlich stimmte oder nicht, seine realen historischen Auswirkungen gehabt.

Sonderweg? Die Deutschen als etwas Besonderes? Natürlich hing eine Frage sofort in der Luft. Man hätte schnell Wetten abschließen sollen, wann sie gestellt werden würde. Und richtig, bald stand auch eine Journalistenkollegin auf und stellte sie, die Frage aller Fragen, das Problem, das im vergangenen Jahr der Kern-, Knack- und Drehpunkt der Friedenspreisrede Martin Walsers gewesen war und das auch den Debatten vom Übergang von der Bonner zur Berliner Republik zu Grunde liegt. In der Stimme der Fragestellerin schien eine eigene Schwere, ein besonderes Gewicht mitzuschwingen. Ob Fritz Stern glaube, dass die Deutschen inzwischen normal geworden seien, fragte sie, und alle Journalisten horchten auf.

Die Antwort, die Fritz Stern gab, wischte – wenn es sie denn überhaupt gegeben hatte – alle Zweifel an diesem Preisträger vom Tisch. Ach, er wolle überhaupt mal ein normales Volk kennen lernen, sagte er. Dieser Antwort folgte etwas, was auf der Frankfurter Buchmesse beinahe so selten und kostbar sein dürfte wie ein unerkannt herumschlendernder Nobelpreisträger – es herrschte ein verblüfftes 20-sekündiges Schweigen. Und sagt Sterns ironische Einlassung nicht auch wirklich alles zur Frage der deutschen Normalisierung? Was ist schon von einem Volk zu halten, das sich ständig vergewissern muss, dass es jetzt normal geworden ist? Auf eine sehr beiläufige Art machte Fritz Stern darauf aufmerksam, dass dieser Zwang zur Selbstvergewisserung das letzte Zucken der Ideologie vom deutschen Sonderweg sein könnte. Er jedenfalls, drückte Fritz Stern noch aus, kenne sonst nur Völker, die etwas Besonderes und eben nicht normal sein wollen.

So. Mag sein, dass die folgende Wendung etwas waghalsig ist, aber da unsere kleine Messe heute zu Ende geht, drängt sich formlich die Frage auf: Wird dies eine normale Buchmesse gewesen sein? Nun ja, irgendwie schon, aber viel bedeutet das Wörtchen „normal“ auch in diesem Zusammenhang nicht. Es herrschte derselbe Ausnahmezustand wie jedes Jahr.

Ein Publikum, das sich mühsam durch die engen Gänge schiebt, gestresstes Personal in den Verlagsständen und Lektoren, die so viel zu bereden hatten, dass sie bald kaum noch ihren eigenen Namen korrekt aussprechen konnten. Die Buchmesse ist eben eine Zumutung für alle Beteiligten, und dennoch gibt es kaum einen Vertreter der Buchbranche und kaum einen Besucher, der sie missen möchte. Normal verrückt, möchte man sagen. Und ganz wunderbar. Dirk Knipphals