Zwei ungleiche Freunde

■  Cem Özdemir, Schwabe und grüner Bundestagsabgeordneter, und sein Berliner Parteikollege Özcan Mutlu sprechen über Immigranten in Kreuzberg, Badekultur und die türkische Disco-Szene

err Özdemir, Sie leben seit zwei Monaten in Neukölln, einem Bezirk, der keinen besonders guten Ruf genießt, weil hier das soziale Elend groß ist.

Cem Özdemir: Ich habe bisher noch nie in einer Großstadt gelebt, ich komme aus dem beschaulichen Schwabenländle. Neukölln ist extrem laut, aber auch sehr spannend. Die Dichte an Hundekot dürfte rekordverdächtig sein. Neukölln ist aber kein Kulturschock für mich, denn auch ich komme nicht aus völlig behüteten Verhältnissen. Mein Vater arbeitet in der Fabrik, meine Mutter hat eine Änderungsschneiderei.

Sie leben zum ersten Mal in einer großen türkischen Community. Was fällt Ihnen auf?

Özdemir: Das ist für mich natürlich sehr ungewohnt. Ich empfinde die vielen Türken nicht als unangenehm, aber es ist eine völlige Umstellung. Meine eigene Welt ist interkulturell, dazu gehört der türkische und deutsche Aspekt. Ich bin völlig anders aufgewachsen. In meiner Schulklasse war ein Kind portugiesischer Herkunft, das war der José, der „Portugiesenjunge“. Und ich war der einzige „Türkenjunge“.

Herr Mutlu, hört sich das für Sie weltfremd an?

Özcan Mutlu: Wir kommen beide aus völlig unterschiedlichen Welten. Für Cem ist das Leben in Neukölln aufregend, für mich Alltag. Ich musste mich in solch einem Umfeld hochkämpfen. In meiner Klasse waren fast nur türkische Kinder.

Herr Özdemir, sind Sie schon auf dem Absprung in einen schickeren Stadtteil?

Özdemir: Nein, ich möchte in Neukölln bleiben. Es ist nicht so, wie manche Medien geschrieben haben, dass das Arbeiterkind zurück zu seinen Wurzeln geht. Mit Sozialromantik hat das nichts zu tun. Mir gefällt es dort, und ich habe auch nicht das Gefühl, dass dort Mord und Totschlag herrscht.

Aber Ihr Klingelschild haben Sie schon wieder abgemacht.

Özdemir: Das liegt daran, dass die türkischen Nachbarn ständig gefragt haben, ob ich ihnen helfen kann, zum Beispiel, die Ehefrau aus der Türkei zu holen.

Sie sind seit vielen Jahren befreundet. Unternehmen Sie manchmal etwas zusammen?

Özdemir: Am Wochenende sind wir schon öfter zusammen durch Neukölln und Kreuzberg geradelt. Özcan hat mir alles gezeigt. Ich finde es toll, dass man hier zu jeder Tages- und Nachtzeit etwas zu essen kaufen kann. Das hat mich zutiefst beeindruckt. Ich weiß jetzt, wie ich durchkomme.

Mutlu: Seine Verhaltensweisen sind teilweise sehr lustig. Cem muss endlich mal die Unsitte ablegen, an jeder Straßenkreuzung mit dem Auto zu halten, um die Leute über die Straße zu lassen. Das macht man in Berlin nicht.

Was machen Sie sonst noch zusammen?

Özdemir: Wir haben eine gemeinsame Leidenschaft, das türkische Bad. Ich versuche gerade, die Badekultur als Element der politischen Kultur zu beleben. Der Pressesprecher kommt auch mal mit oder Freunde von uns beiden.

In Berlin gibt es ein reges türkisches Kulturleben. In Schwaben oder in Bonn gibt es das nicht.

Özdemir: Das stimmt. Die türkische Discokultur ist mir aus Köln nicht ganz unbekannt, aber so etwas wie Gayhane [eine lesbisch-schwule Party, wo Deutsche, Türken, Homo- und Heterosexuelle zu türkischer Musik tanzen; Anm. d.Red.] kannte ich nur vom Hörensagen.

Mutlu: Ich fühle mich bei Gayhane sehr wohl, denn da fühle ich mich frei. Die türkischen Discos sind mir zu machomäßig.

Ein großer Unterschied zwischen uns beiden ist, dass wir beide zwar gut singen können, Cem aber mit Vorliebe deutsche Volkslieder singt und ich türkische.

Worin unterscheiden Sie sich noch?

Mutlu: Unsere unterschiedlichen Lebenswelten haben natürlich auch unsere politische Sozialisation geprägt. Ich bin in einem stark türkischen und gleichzeitig alternativ-linken Milieu in Kreuzberg aufgewachsen. Wir gehören nicht gerade derselben parteipolitischen Strömung an. Auch sonst sind wir völlig anders aufgewachsen. Wenn man in Kreuzberg aufgewachsen ist, dann kam man auch hin und wieder in die Verlegenheit, bei einer Demo einen Pflasterstein in die Hand zu nehmen, was für einen Herrn Özdemir aus Urach unverständlich ist.

Özdemir: Meine Szene war eher das ländlich-alternative Milieu, dass mich politisiert hat.

Mutlu: In den achtziger Jahren habe ich die Häuserbesetzungen miterlebt. In der Welt, aus der meinen Eltern stammen, hat man sich keine Zeit für Kinder nehmen können. Bei den Hausbesetzern saß ich mit am Tisch, und sie haben mir zugehört. Dieses Milieu hat mich sehr geprägt. Das ist der Grund, warum ich mich immer im Umfeld der Grünen bewegt habe. Als ich 1990 die deutsche Staatsbürgerschaft bekommen habe, wollte ich dann auch mitmischen.

Özdemir: Ich werde natürlich immer mit Migrationspolitik in Verbindung gebracht. Aber einer meiner größten Erfolge ist, dass meine Freunde und ich es geschafft haben, eine stillgelegte Bahnstrecke in meinem Wahlkreis wieder in Betrieb zu bekommen. Das war meine erste politische Tat.

Der Unterschied zwischen uns beiden ist, dass Özcan in einer wesentlich türkischeren Welt aufgewachsen ist. Die hatte ich nur, wenn meine Eltern am Wochenende Freunde besucht haben. Unter der Woche lebte ich in einer komplett schwäbischen Welt.

Mutlu: Es verbindet uns viel, aber wir sind nicht immer einer Meinung. Zum Beispiel was Schwarz-Grün betrifft. Mit diesen apolitischen, korrupten Neurotikern will ich nichts zu tun haben.

Özdemir: Mit der Jungen Union von Kreuzberg, die im Wahlkampf ausländerfeindliche Sprüche geklopft hat, würde ich auch nicht zusammenarbeiten. In Baden-Württemberg ist die SPD äußerst profillos. Da gibt es leider gegenwärtig keine Perspektiven für Rot-Grün. Solange die CDU ihre Position zu Minderheiten und Zuwanderern nicht klärt, bleibt es eine theoretische Möglichkeit. Das ist der Hintergrund für schwarz-grüne Überlegungen.

Jörg Schönbohm, der ehemalige CDU-Innensenator, hat Kreuzberg als Getto bezeichnet, weil dort ein hoher Anteil von Menschen nicht deutscher Herkunft lebt. Was haben Sie, Herr Özdemir, bei ihren Streifzügen empfunden?

Özdemir: Zu einer Großstadt gehören ethnisch gefärbte Stadtviertel. Aber Multikulti bedeutet nicht, dass es sich um einen einzigen, glücklichen Bauchtanz handelt. Es ist eine Konfliktgesellschaft, in der es auch Probleme gibt. Wenn eine türkischstämmige Polizistin von türkischen Jugendlichen als Verräterin angepöbelt wird, dann stimmt da was nicht. Manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich froh bin, nicht Ausländerbeauftragter oder Innenminister zu sein, denn in vielen Fragen bin ich härter als mancher Deutsche. Ich fordere zum Beispiel, dass jeder Zuwanderer einen Deutschkurs absolvieren muss.

Gerade die Jugendlichen nicht deutscher Herkunft fühlen sich ausgegrenzt.

Mutlu: Diese Menschen bekommen keine Chance, sich zugehörig zu fühlen. Ich habe, auch wenn ich es falsch finde, Verständnis dafür, wenn junge Türken sich in islamistische Vereine zurückziehen, anstatt in ein Jugendfreizeitheim zu gehen, wenn man ihnen seit Jahren eingetrichtert hat, dass sie nicht hierher gehören.

Özdemir: Da braucht es Leute wie Özcan, die sich bereits durchgesetzt haben. Özcan muss zu den Jugendlichen gehen und sagen, dass sie es auch schaffen. Dass sie sich auf den Hosenboden setzen und nicht rumjammern sollen, sich nicht als armer, unterdrückter Ausländer fühlen.

Herr Mutlu, nachdem Sie in Kreuzberg ein Direktmandat gewonnen haben, werden Sie schon als kleiner Bruder Cems gehandelt. Schmeichelt Ihnen das?

Mutlu: Cem hat viel geschafft, doch ein Ziehkind von ihm bin ich natürlich nicht. Wir haben uns erst 1995 kennengelernt. Hinzu kommt, dass er Innenpolitiker ist und ich Bildungspolitiker.

Özdemir: Er ist Özcan Mutlu. Ich bin Cem Özedemir. Wir sind beide eigenständige Persönlichkeiten. Und wir haben beide unseren Weg eigenständig geschafft. Das ist es, was uns verbindet. Özcan ist mir sympathisch, weil er kein Exilpolitiker, kein Sektierer, sondern ein grünes Urgewächs ist.

Mutlu: Kurz nach der Wahl hat mich die türkische Presse zum Kurden gemacht, obwohl ich seit Jahren versucht habe, mich aus dem Kurden-Türken-Konflikt rauszuhalten, weil ich Politik für Menschen mache und nicht für verschiedene Gruppen. Jetzt hat die türkische Presse anscheinend ein neues Feindbild.

Özdemir: (lacht) Für mich ist das sehr gut, denn jetzt prügeln die türkischen Nationalisten nicht mehr nur auf mich ein.

Sie gelten beide bei den Grünen als Shooting-Stars. Gibt es manchmal auch Probleme?

Özdemir: Die Partei vergisst dich sehr schnell. Ich habe jahrelang für eine Reform des Staatsbürgerschaftsrechts gekämpft. Als wir nach der Bundestagswahl mit der SPD die Reform in den Koalitionsvereinbarungen festgeschrieben haben, wurde ich überhaupt nicht erwähnt. Der Parteivorstand hat es damals auch nicht für nötig gehalten, dass ich auf dem Parteitag dazu spreche. Die Rede habe ich dann ganz spontan gehalten. Du wirst merken, Özcan, dass die Freunde, wenn du mit ihnen auf gleicher Augenhöhe bist und du dich nicht zum unterdrückten Ausländer machst, sehr schnell sagen werden: Hoppla, so haben wir nicht gewettet. Selbstbewusste Migranten mögen viele nicht.

Mutlu: Ich muss mein Fachgebiet sehr gut beherrschen, dann bekomme ich auch Anerkennung. Wenn man als Migrant etwas anderes als Migrationspolitik macht, entsteht ganz schnell Konkurrenz mit den deutschen Parteikollegen.

Özdemir: Absolut. Jeder Fehler, jede falsche Äußerung wird mir unter die Nase gerieben. Bei mir wird auf alles geachtet, das fängt schon bei der Kleidung an. Das ist nicht vergleichbar mit der Arbeit eines anderen Abgeordneten, nach wie vor nicht. In der deutschen Bevölkerung werde ich viel selbstverständlicher behandelt als in der Partei. Das Recht, einen Fehler zu machen, wird mir von der Partei nicht zugestanden.

Interview: Julia Naumann

und Dorothee Winden