Nachdenken über eine Supertheorie

Für den Reader „Kommunikation, Medien, Macht“ haben sich Rudolf Maresch und Niels Werber eine Reihe von Autoren eingeladen, um die Medienwissenschaft Friedrich Kittlers und die Systemtheorie Niklas Luhmanns zusammenzuführen  ■   Von Sebastian Handke

Macht und Medien werden abstrakt ausgelegt, ohne dabei Menschen und ihre Körper mitzudenken

Dass das Internet seine Entstehung militärischen Notwendigkeiten verdankt, darf inzwischen als bekannt vorausgesetzt werden. Schon etwas weniger bekannt dürfte sein, dass die beiden Disziplinen, die sich momentan am eingehendsten mit den so genannten Neuen Medien befassen, Niklas Luhmanns soziologische Systemtheorie und die Medienwissenschaft Friedrich Kittlers, ebenfalls dem militärischen Kontext entstammen: Gemeinsamer Ausgangspunkt ist die Kybernetik, die Wissenschaft von Steuerungs- und Regelungsvorgängen.

Man könnte also meinen, dass sich diese Denkschulen besonders eignen, das Phänomen „Macht“ in den Medien zu untersuchen. Und so haben Niels Werber und Rudolf Maresch in ihrem Reader „Kommunikation, Medien, Macht“ dazu eingeladen, sich über eine Supertheorie Gedanken zu machen, die sich aus Systemtheorie und Medienwissenschaft zusammensetzen könnte. Denn beide Ansätze bedürften der gegenseitigen Ergänzung. Auf der einen Seite ist Kommunikation für die Systemtheorie die Basisoperation der Gesellschaft. Die Technologie der Kommunikation selbst fällt aber aus ihrem Blickwinkel, weil sie nicht „mitkommuniziert“ wird. Die Medientheorie andererseits spricht über selbstständig operierende Informationssysteme und verliert dabei den Menschen – oder in nichthumanistischer Terminologie: den User – aus den Augen.

Black boxes (Luhmann) hier wie dort: die Soziologie beschreibt die (Medien-)Welt als gigantische Oberflächenstruktur und versenkt ihre technologische Architektur im schwarzen Loch einer nicht adressierbaren „Umwelt“, die Medientheorie übergibt den Menschen der Verschaltung im Dickicht der Wechselstromkreisläufe.

Wolfgang Hagen, Redakteur bei Radio Bremen, bemüht sich in seinem Beitrag um eine klare Definition von Massenmedien. Luhmanns Grundbedingungen – der Ausschluss von Interaktion unter Anwesenden, zwischen Sender und Empfängern und die Selbstreferenzialität des Systems der Massenmedien – werden hier grundiert mit ihrer historisch-technischen Bedingung: „Massenmedien werden Massenmedien erst ab der Fundamentalgeschwindigkeit ihrer Rückkopplungen.“ Für Hagen sind alle technischen Medien so etwas wie „liegengelassene Experimente“, die über die Kontextverschiebung Wissenschaft – Militär – Massenmedien in das System der Massenmedien „einsickern“ und für Neuorganisation, Unerwartbarkeit und Dynamik sorgen – allesamt „Störungen“, die vom systemtheoretischen Konzept eines operational geschlossenen Bereiches nicht erfasst werden können. Hagen verschreibt der Systemtheorie der Massenmedien eine historische Dekonstruktion, die die Verwurzelung der eigenen Begrifflichkeit im technischen Medium selbst demaskieren soll. Luhmanns abstrakter Evolutionsbegriff bedarf dringend einer technischen Historisierung. Denn seine Konzeption des Systems der Massenmedien betreibt die Abkopplung der technischen Apparaturen von ihren Entstehungsbedingungen. Die Materialität der Medien ist aber Teil der inneren Dynamik des Systems. Darüber hinaus werden Kommunikationsfaktoren, die nur technisch beschreibbar sind, einfach ausgeblendet.

Der Bielefelder Literaturwissenschaftler Siegfried J. Schmidt beschreitet einen ähnlichen Weg, indem er die Eigendynamik der Technologie als „strukturelle Medienmacht“ in einen systemtheoretischen Ansatz zu integrieren versucht. Die Macht der Medien liegt dann darin, dass deren Wahrnehmungstechnologien unsere Konstruktion von Wirklichkeit beeinflussen oder gar bestimmen. Versuche, diese Wahrnehmungstechnologien zu instrumentalisieren bleiben nicht aus. Aber der Intentionalität der Steuerungsversuche steht die Strukturalität des Mediums entgegen. Bei Hagen und Schmidt ahnt man, was ein Theoriebaukasten aus Systemtheorie und Medienwissenschaft möglicherweise leisten könnte.

Die Gemeinsamkeiten der beiden Ansätze, ihre „antihumanistischen Familienähnlichkeiten“, markieren im Übrigen auch das gemeinsame Problem: dass sie Macht beziehungsweise Medien abstrakt auslegen und dabei den Menschen und seinen Körper aus den Augen verlieren. Unberücksichtigt bleibt dann, dass Menschen den reibungslosen Ablauf des Verschaltens noch immer „stören“ und dass Machtausübung immer noch mit der „Positionierung und Präsenz von Körpern im Raum“ zu tun hat, wie Hans Ulrich Gumbrecht in seinem Text über das, „was sich nicht wegkommunizieren lässt“, feststellt. Daher scheinen sowohl System- als auch Medientheorie beim Versuch der Verortung von Macht merkwürdig mittellos: Wo ist die Macht, wenn der Mensch aus den Prozessen verschwunden ist? Die gelegentlich reflexhaft anmutende Abgrenzung gegen die an die „Kontingenzformel Mensch gekoppelten humanistischen Spekulationen“ lässt den Menschen und seinen Körper unsichtbar werden.

Wie wichtig aber der Mensch für die Analyse von Machtdispositiven ist, zeigen die Beiträge von Stefan Wunderlich und Niels Werber. Stefan Wunderlich prüft Michel Foucaults Modell der Disziplinargesellschaft auf seine Tauglichkeit für das Informationszeitalter. Niels Werber hat einen Beitrag über die Zukunft der Weltgesellschaft beigesteuert. Die Totalexklusion aus dem gesellschaft-lichen Zusammenhang, die für Luhmann noch der Sonderfall der südamerikanischen Favelas war, wird einen großen Teil der Weltbevölkerung betreffen. Es entstehen medientechnisch vernetzte Ghettos der Inklusion und abgekoppelte – möglicherweise gar abgeriegelte – Exklusionsbereiche, ein Vorgang, wie er heute schon in Los Angeles oder in Indiens Softwaremetropole Bangalore zu beobachten ist.

In den Exklusionsbereichen leben dann „keine Menschen, sondern Körper“, die von den zentralen Funktionssystemen der Gesellschaft ausgeschlossen sind. Der privilegierte Zugang wiederum zur Kommunikation der „virtuellen“ Welt und der Einschluss in den funktionellen Zusammenhang der „wirklichen“ Welt verstärken sich gegenseitig zu einem Teufelskreis, der von den Eigenlogiken von Globalisierung und der Privatisierung von staatlichen Monopolen wie Bildung und Gewaltausübung gestützt wird. In umgedrehter Perspektive ist dies als ein Mechanismus einer sich wechselseitig verstärkenden „Exklusionsakkumulation“ zu beschreiben, aus der tatsächlich eine elektronische Grenze erwächst, die Räume separiert und Körper darin platziert: In der vernetzten Welt entsteht ein existenzielles „in or out“.

Hier ist dann das Potenzial für neue Kontrolle genauso angelegt wie für neue Formen der Emanzipation oder des Entzugs. Eine nicht mehr zentralistische Machtform ist nun sehr viel schwerer zu lokalisieren, sie liegt irgendwo zwischen der Macht, uns vor dem Bildschirm zu halten, dem Einfluss auf unsere Wirklichkeitskonstruktion, den Versuchen der Instrumentalisierung von Medien, den Technologien der Erfassung und der Möglichkeit, andere vom Zugang zur Technologie auszuschließen. Wer sich systemtheoretisch nur mit dem Beobachten oder medienwissenschaftlich nur mit dem Berechnen befasst, dem fehlt es an Sensibilität für die Folgen, die diese hybride Form von Medienmacht auf die Sozial- und Raumdimension in der Lebenswelt des Menschen haben können. Rudolf Maresch/Niels Werber (Hrsg.): „Kommunikation, Medien, Macht“. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999, 450 S., 29,20 DM