Verzweifelte Höhen, idealistische Hoffnung

■ Bei der Jubelfeier zum 175. Geburtstag der Philharmonischen Gesellschaft entzauberte Günter Neuhold in der Glocke die Freudenjubel von Ludwig van Beethovens Neunter Symphonie absolut bejubelungswürdig

Ach, „die Neunte“. Gilt sie nicht im allgemeinen Urteil noch immer als tauglich für repräsentative Silvesterkonzerte, laut, bombastisch, pathetisch? Wird sie nicht immer noch missbraucht für bürgerliche Feiern, gegen die sie im Gegenteil ihre gewaltige Stimme erheben wollte? Das formal und inhaltlich riesige Werk hat jedenfalls seinen Schatten über das gesamte sinfonische Schaffen des neunzehnten Jahrhunderts geworfen: „Wer vermag nach Beethoven noch etwas zu machen?“, fragte Franz Schubert. Ähnlich empfanden das Johannes Brahms und auch noch Anton Bruckner.

Ludwig van Beethovens in jeder Hinsicht janusköpfiges Werk zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert, zwischen idealistischer Hoffnung und tiefer Resignation, zwischen Sinfonie und Kantate, zwischen Konvention und deren permanenter Sprengung, lehrt uns noch heute Wesentliches über den Umgang mit der eigenen Utopie, über die Erfahrung ihrer Zerstörung. Dass solches so gehört werden kann, hängt natürlich ab von einer Interpretation, die sich weit weg vom eingangs erwähnten Plüsch bewegt. Und die war im zweiten Abonnementskonzert, im eigentlichen Festkonzert zum 175. Geburtstag der Philharmonischen Gesellschaft, meisterhaft. Generalmusikdirektor Günter Neuhold überzeugte durch eine klug durchdachte, mitreißende Konzeption, die ihre Schwerpunkte hatte: in der Wahl der schnellen Tempi und deren Relationen; in den Übergängen, die auf aufregende Weise das häufige Zerbrechen der musikalischen Struktur erfassten; in der Betonung des Tänzerischen; in einer hochdramatischen Disposition generell. Wunderte man sich am Anfang etwas über nicht ganz deutliche Artikulation – lange schien der erste Satz „neblig“ zu bleiben –, so war im Herausschießen einer wilden Durchführung und auch in der endgültig ins Geräusch übergehenden Raserei des Schlusses zu verstehen, warum das so angelegt war – nämlich als unerhörte Folge und fatalistischer Kontrast gleichermaßen.

Unmissverständlich der „Freudenjubel“ der drei Chöre – Chor des Bremer Theaters, die Singakademie und der Chor des Städtischen Musikvereins Düsseldorf: so gesungen, in ständiger eigener Überforderung und der des Hörers, wird klar, was Beethoven 1822 gemeint haben könnte. Dass er nach dem Verrat der Ideen von 1789 genau an diese Freiheit und diese Gleichheit nicht mehr glaubte, schon mal gar nicht mehr daran, dass über den „Sternen ein lieber Vater wohnt“: in verzweifelter Höhe schreien es die Soprane. Unerbittlich scheinschöne sinfonische Sprache entrümpelnd war Neuhold dem republikanischen Geist des Werkes auf der Spur. Ein Edelstein in den „Trümmern“ des Schlusssatzes: die mahnende Straßenrevolutionsmusik als Einbruch in die Friedens-, Freiheits- und Gleichheits-apotheose – man hielt den Atem an wie so oft an diesem Abend. Wie besessen arbeitete Neuhold das zur Zeit der Uraufführung als „empörend“, „ungeheuerlich“, „unspielbar“ Empfundene heraus. Es gelang ihm und dem trefflich folgenden Staatsorchester, diese Sprengung des Gewesenen wieder deutlich, sehr deutlich zu machen.

Das Solistenquartett hat in dieser Sinfonie eines der undankbarsten Partien, die es überhaupt gibt: Schwerstes zu singen ohne die entsprechende Wirkung. Mit guter Homogenität – deren Wichtigkeit gerade hier nicht zu unterschätzen ist – bewältigten Svetla Vassileva, Waltraud Hoffmann-Mucher, Herbert Lippert und David Wilson-Johnson ihre diffizilen Aufgaben. Verdient riesiger Beifall in der restlos ausverkauften Glocke.

Ute Schalz-Laurenze