Bypass am Herzen der Finsternis

Die FBI-Agentin Clarice Starling hört immer noch die Lämmer schweigen: Mit „Hannibal“ vollendet Thomas Harris seine Trilogie aus dem Gedächtnispalast des Menschenfressers. In dem neuen Roman hat das Böse viele Gesichter, und die Gnade bleibt blutend auf der Strecke  ■   Von Georg Seeßlen

Nach innen geht der geheimnisvolle Weg. Zum Beispiel in der europäischen Literatur. Eines ihrer Hauptprobleme jedenfalls ist die Suche nach dem Subjekt, nicht nur der Erzählung, sondern auch der Sprache selbst. Dieses Problem hat die amerikanische Literatur immer nur am Rande berührt.

Gerade weil ihre Sprache in der Regel äußerlich blieb, ein literarisches „What You See Is What You Get“, zerfiel sie nicht im Streit mit der Erzählung. Nein, das Problem der amerikanischen Literatur ist nicht das schreibende und sprechende Ich – genügend Ausnahmen bestätigen die Regel –; das Problem der amerikanischen Literatur, vielleicht sogar der amerikanischen Kultur überhaupt ist: das Böse. Das Böse in seiner banalen Herrschaft und in seiner schillernden Faszination als Phantasma. Das Böse in einer Welt, die wegen seiner Existenz nicht Ich werden kann und immer fremd bleiben muss. Das Böse in den langen Schatten von Edgar Allen Poe und Herman Melville. Das Böse, das nicht einmal die Grenze zwischen E- und U-Literatur respektiert, geschweige denn die Grenzen des guten Geschmacks.

Spätestens mit dem Roman und der für einmal höchst angemessenen Verfilmung „Das Schweigen der Lämmer“ war wohl klar, dass Thomas Harris weder eine weitere kathartische Linie im Umgang des amerikanischen Bürgers mit dem allfälligen Bösen eröffnete, keine Stephen Kingsche Horror-Aspirin-Literatur, noch das kalte Grauen von „American Psycho“ evozierte. Sondern er entwickelte eine mythische Geschichte, die danach drängte, eine vollständige Abbildung der Welt im Zustand ihres Verfalls zu generieren. Ein Bild, das sozusagen automatisch auch religiöse Züge beinhalten musste, aber zudem so direkt und materialistisch die Beziehungen von Macht und Sexualität wiedergab, wie es einem Roman nur möglich ist, der bei allem auch noch den Gesetzen einer populären Form, dem Thriller, folgte.

Clarice Starling, die (damals) junge FBI-Agentin, aus armseligen Verhältnissen des White Trash aus dem Süden stammend und mit einem Vater- und Gewalt-Trauma behaftet, dem gegenüber alle ihre polizeilichen Taten als Versuch von Befreiung und Kompensation wirken mussten, begegnete bei ihrer Jagd nach dem schrecklichsten aller Transvestiten, dem „Buffalo Bill“, der ganz buchstäblich in die Haut des anderen Geschlechts schlüpfen will, dem ebenso genialen wie bösartigen Dr. Hannibal Lecter, genannt „Hannibal the Canibal“. Das ist ein höchst zwiespältiges Verhältnis: der Schwarze Mann und der gütige Vater in einem. Am Ende von „Das Schweigen der Lämmer“ ist Dr. Lecter, der einstige Psychologe, der gebildetste und gepflegteste aller Kannibalen, entkommen. Und wir wussten nicht, ob wir darüber glücklich oder unglücklich sein sollten.

Sieben Jahre sind seitdem vergangen. Clarice Starling, ein Lichtwesen, das so viele Augen auf sich zieht, dass wir nie wissen, wo die Kette der Beschattungen und Überwachungen enden würde, hat Karriere gemacht. Aber sie ist gleichzeitig unendlich weit von ihrer eigentlichen Hoffnung entfernt, in die „Abteilung für Verhaltensforschung“ übernommen zu werden: „Ein shooting star, auf dem Weg nach oben steckengeblieben“. Und sie trägt noch die Pulverspuren unter der Haut aus dem Revolver des Mörders Jame Gumb, ein wenig wie Kapitän Ahab seine Verletzungen trägt sie diese Narbe.

Bei einem Einsatz muss sie in Notwehr die Frau eines Drogendealers erschießen, die ihr Baby bei sich hatte. Das bringt ihr nicht nur eine böse Presse ein, sondern auch den Status eines nur allzu gern gebrachten internen Opfers. Aber bevor sie endgültig geopfert wird, meldet sich Hannibal the Canibal mit einem höchst verständnisvollen Brief wieder. Clarice Starling kehrt zurück zu ihrem ersten Fall, zu ihrer Initiation. Sie muss hinunter in die Keller des Gefängnisses für psychisch kranke Verbrecher, in dem alles begann und das nun eine Ruine ist, in dem nur noch einige Gespenster von damals hausen. Der Mann zum Beispiel, der einst den Kopf seiner Mutter in den Klingelbeutel seiner Kirche warf, weil er das Kostbarste war, was er besaß.

Und es gibt noch jemand anderen, der nach dem Kannibalen sucht, der reiche Mason Verger, oder das, was von ihm übrig geblieben ist, nachdem Lecter ihm das Genick gebrochen und seine eigenen Hunde auf ihn losgelassen hatte. Ein Menschenmonster, dessen nach wie vor bösartige Seele in einem zerfetzten Restkörper maschinell weiterexistiert; der Sohn eines Schlächters und Millionärs, der die Beziehung von Fleisch und Kapital auf den einfachsten Nenner brachte, und dessen letztes Vergnügen darin besteht, Kinder zu quälen und ihre Tränen im Cocktail zu trinken. Die Schatten der Väter, auch hier. Mason Verger (der in jeder Hinsicht am Rande lebt) hat eine große Inszenierung im Sinn: Er will durch seine Kameraaugen zusehen, wie Hannibal Lecter von speziell für diesen Zweck gezüchtete Schweine bei lebendigem Leibe aufgefressen wird.

Dass die Spur nach Italien führt, ein Fluchtpunkt der Zivilisationsgeschichte und der Kunst, ist gewiss kein Zufall. Dass der Chefinspektor der Questura in Florenz auch noch Rinaldo Pazzi heißt und Spross einer Familie ist, die unter den Medici für ihre Revolte öffentlich gemordet wurde, gehört zu den kleinen Exaltationen, die sich Harris immer wieder einmal leistet. Chefinspektor Pazzi ist ein anderer Underdog, der darauf hofft, durch die Jagd nach dem kannibalischen Mörder verlorene Reputation, den Respekt seiner Kollegen zurückzugewinnen – und ihn doch an Mason Verger zu verkaufen versucht.

Auch er leidet unter einem „alten Fall“, „Il Mostro“, der Liebespaarmörder. Pazzi hat den Mörder zur Strecke gebracht, wird als Held gefeiert, nur um kurze Zeit später nach einer Revision angeklagt zu werden, Beweise manipuliert zu haben. An ihm sehen wir, wie das Böse sich fortzeugt, wie es noch nach Entschuldigungen sucht. Hannibal Lecter also taucht dort in Florenz in einer neuen Rolle auf, als Dr. Fell, der neue Kurator, „ein Kenner und Genießer menschlicher Fratzen“. Bei dem Versuch, für Mason Verger als Beweis einen Fingerabdruck zu erhalten, opfert Rinaldo Pazzi einen Zigeuner, dessen Geliebte in Fell alias Lecter den leibhaftigen Teufel erkannt zu haben glaubt. Und er bezahlt, bitter und biblisch, wie ein Judas Ischariot der Questura. Mit einer Reisegesellschaft kommt Lecter nach Amerika zurück, während Clarice ihm über seine einzige Schwäche, den Geschmack, auf die Spur zu kommen versucht.

Viele Intrigen und Gewalttaten später hat sich alles auf den Kopf gestellt: Clarice Starling muss wieder in den verbotenen Raum eindringen, um ihren schwarzen Vater zu retten. Mehr zu verraten wäre fahrlässig, denn dieser Roman funktioniert ja auch und immer noch als Spannungsliteratur.

Wie „Das Schweigen der Lämmer“ ist auch „Hannibal“ ein Buch der Blicke und Bilder: Jedes Bild sieht anders und auf andere zurück, als es angesehen wird. Das Verbrechen ist zugleich stets das Arrangement eines Kunstwerkes und umgekehrt (so wie „Il Mostro“ nichts anderes ist als ein Imitator von Sandro Botticelli: Der Serienmörder, das ist nicht nur bei Harris Stand der Dinge, ist, zumindest in den Phantasien unserer popular culture, der einzig verbliebene Künstler).

Clarice Starling lernt noch einmal, anders zu sehen: „Früher hatte sie, bevor sie auf ein Bild schaute, immer zuerst die Bildunterschrift gelesen. Das tat sie jetzt nicht mehr. Machnchmal nahm sie von Bildunterschriften nicht einmal mehr Notiz“. Sie beginnt, ihrem Geschmack zu trauen, und damit, Dr. Lecter „in den Korridoren seines Geschmacks zu verfolgen“.

Wie alle Monstren der populären Kultur steht auch Lecter

Fortsetzung Seite 15

Fortsetzung von Seite 14

im dritten Teil von Harris' Trilogie in Gefahr, uns zu sehr erklärt, uns zu sehr vertraut zu werden. Die literarische Operation am offenen Herzen der Finsternis bringt einen Krankheitsverlauf zum Vorschein; der Mythos erhält eine historische Dimension: Er musste als Kind mit ansehen, wie versprengte deutsche Truppen am Ende des Krieges in Litauen seine Eltern töteten, das Haus zerstörten und schließlich seine Schwester auffraßen. Hänsel und Gretel neu gelesen: Das menschenfresserische Monster wird nicht überwunden, sondern internalisiert. Und seine Beziehung zu Clarice, die ja unter einem ganz ähnlichen, wenngleich weniger radikalen Schlacht-Trauma leidet, erklärt sich nicht zuletzt durch eine Zeichnung von Lecter, auf der er eine Uhr gestaltet hat, mit Jesus in der Pose der Kreuzigung als Zeiger und mit dem Gesicht von Clarice. Nein, vor starken Bildern hat Harris keine Scheu. Er bietet dem Fluss des Blutes neue Bahnen.

Clarice Starling ist nicht nur die junge Frau, deren Einsamkeit wir in jeder Wendung der Handlung in einer neuen Facette kennenlernen, die White-trash-Tochter auf der Suche und auf der Flucht vor den väterlichen Blicken. Sie ist auch eine Protestantin in einer gottlosen, protestantischen Welt, in einer Welt, in der „ER gar nicht daran dachte, um des Lebens von 50.000 Ibo-Kindern willen Regen zu senden“, geschweige denn der moralischen Weltordnung zu Hilfe zu kommen. Die Bücher von Thomas Harris sind bevölkert von gefallenen Engeln einer Religion ohne Bilder, und wieder produziert Hannibal the Canibal bei seiner Jagd auf „freilaufende Unverschämte“ blutige Engel-Bilder.

Es ist immer wieder das Eindringen in die mysteriösen Räume, was Clarice Starling bei ihrer Suche voranbringt oder nicht, und es sind die verschiedensten Phasen der american gothic, die sie dabei erfährt – bei den Vergers etwa kommt sie in die Welt der morbiden, todkranken Reichen wie in einem Chandler-Roman oder einem Film noir. Und schon ganz am Anfang ist jener Diskurs von Weiblichkeit und Gewalt eröffnet, den wir kennen. Was mag Mütterlichkeit, was mag Liebe sein, im Schatten der schwarzen Väter?

Oh ja, das Böse hat viele Gesichter in „Hannibal“, und immer wieder verknüpft Harris seine Phantasmen mit realen Schrecken der Historie (Mason Verger etwa hat „transportable Guillotinen“ für Idi Amin gebaut). Seine Wesen sind bemerkenswert offene Systeme, geöffnete Körper und Kommunikationssysteme, die keine Grenze mehr zwischen Ich und Welt aufweisen, die zerfließen wie Mason Verger zwischen dem organischen und dem maschinellen, wie eine der schmerzahften Visionen aus einem Film von David Cronenberg. Es ist aber auch die allfällige Korruption, das Netz der tausend Augen, unsere Lust am „Theater der Grausamkeit“ (so ist eine Ausstellung von Folterwerkzeugen in Florenz betitelt), und es lauert in unserer Neugier, die der Autor offen anstachelt. „Du, der du dich frei glaubst von Übel,“ spricht er uns direkt an, „willst du hineingehen? Wirst du diesen Palast betreten, berühmt für Blut und Ruhm ...“

Natürlich bleibt uns gar keine andere Wahl. Wir treten in Lecters „Gedächtnispalast“, ein Schlüsselwort, und längst sind die psychologischen und mythologischen Erklärungen, die wir uns für die ersten beiden Romane zurechtgelegt haben, schon zum Spielmaterial geworden. „Du bist doch viel zu alt, um noch mit deinem Daddy zu vögeln, selbst für weißen Abschaum aus dem Süden“ – so düpiert einer der Männer im Hintergrund, die Clarice' „Karriere zu zertrümmern“ versuchen, unsere wohlfeilen Rationalisierungen.

„Hannibal“ verhält sich zu „Das Schweigen Der Lämmer“ wie „Das Schweigen der Lämmer“ sich zum Brüllen der Lämmer verhält: als ein Versuch der Übermalungen, die zugleich immer wieder zur Wiederkehr der Traumen und Schrecken führen muss, als eine Abfolge von „Erklärungen“, psychologischen Reflexionen, die doch nie auf die eine Klärung hinauslaufen können, weil auch sie nur Ausdruck vom Spiel der Begehren und der Interessen sind. Clarice Starling hat schon Abstand von dem merkwürdigen Initiationsritus durch den dunklen Vater Lecter gefunden: „Ich denke“, sagt sie, „dass man Verstehen nur allzu leicht mit Einfühlungsvermögen verwechselt – wir wünschen uns nichts sehnlicher als jemanden mit Einfühlungsvermögen. Vielleicht ist gerade das Begreifen dieser Unterscheidung Bestandteil des Prozesses, erwachsen zu werden“.

„Hannibal“ ist schon purer Film, aber doch auch zugleich pure Literatur. Manchmal reduziert Harris den Text auf Orts- und Zeit-Angaben eines Drehbuches, wechselt zwischen Gegenwart- und Vergangenheitsform wie im Wechsel von Kameraeinstellungen und entwirft höchst subtextuelle Bilder (wie Claris das HIV-verseuchte Blut abwäscht von dem Baby, auf dem Block, auf dem gerade noch ein Haifisch zerteilt wurde, und wie dieses Bild als böse Opfer-Metapher in der Pressekampagne gegen sie wieder aufscheint). Aber Harris ist doch weit entfernt von jener filmischen Schreibweise, die uns besinnungslos durch einen Text treibt. Immer wieder findet er Abschweifungen, erklärt uns zu Komplizen der Bilderproduktion und gewinnt aus dem Sprachbild die Sprache zurück.

„Hannibal“ ist die Fortsetzung von „Roter Drache“ und „Das Schweigen der Lämmer“, und am Ende der Trilogie hat Hanibal das Zentrum erobert. Der Polizist im ersten Roman scheiterte an den Ungeheuern, die er sehen musste, er musste in den manischen Mördern seine grauenhafte Möglichkeitsform sehen. In „Das Schweigen der Lämmer“ gewinnt Clairce Starling, weil es um ihre Auseinandersetzung mit dem Vater geht, und setzt ihn erst wirklich frei. Eine Rückkehr ist „Hannibal“ nicht nur auf die Weise, wie in erfolgreichen Stoffen erfolgreiche Figuren der populären Kultur zurückkehren müssen. Der Roman kehrt an den Ursprung des Grauens zurück, auch an den Punkt, wo dieses Böse „gemacht“ wurde. In dem Augenblick, wo Hannibal die Axt hört, die das Leben seiner Schwester beendet, ist sein Gott tot. An Clarice schreibt Hannibal, dass sie sich das Schweigen der Lämmer immer wieder verdienen müsse, „denn es ist das Leid, das sie antreibt, das Leid vor ihren Augen, ein Leid, das niemals enden wird, nie“. Und am Ende ist es unser, der Blick des Lesers ins Innere des Bösen, des begehrten und gefürchteten Körpers, der zurückgenommen werden muss. „Wir können nur viel lernen und leben.“ Eine sehr amerikanische Antwort auf ein sehr amerikanisches Leiden.

Thomas Harris: „Hannibal“. Aus dem Amerikanischen von Ulrich Bitz. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg, 528 Seiten, 49,90 DM