Ein Platz im Café bleibt nun leer

Ihre Bücher fingen innere Momente ein, bevor sie ins Unbewusste hinabgleiten: Nathalie Sarraute, die Theoretikerin des Nouveau Roman, ging bis ins hohe Alter schwimmen. Sie starb 99-jährig in Paris  ■   Von Dorothea Hahn

Tropismes“ – zu Deutsch: „Krümmungsbewegung der Pflanze, die durch äußere Reize hervorgerufen wird“ – hat Nathalie Sarraute ihr erstes Buch genannt, für das sie 1939 nach zweijähriger Suche zwar einen Verleger, aber kaum LeserInnen und schon gar keine geneigten KritikerInnen fand. Es war ein kleines Büchlein mit 24 kurzen Geschichten, die mit Sätzen begannen wie „In seinen sehr gut besuchten Kursen am Collège de France amüsierte er sich über das alles.“ Oder: „An den Nachmittagen gingen sie zusammen aus, führten das Leben von Frauen.“

Die zwei-, manchmal dreiseitigen Geschichten verraten nicht, wer „er“ oder „sie“ sind. Auch nicht, mit wem sie es zu tun haben. Schon gar nicht, wer über sie spricht. Sarrautes Personen bleiben anonym. Unbekannte, von denen die Autorin ihrerseits Abstand hält. Während andere versuchten zu analysieren, zu verstehen, was sie in ihren Geschichten, Romanen und Theaterstücken, schrieb, sagte Sarraute vor wenigen Jahren in einem Interview in ihrer tiefen Stimme: „Es geht nicht um Verstehen. Es geht um Fühlen.“

Am Dienstagabend ist die in einer jüdischen Intellektuellenfamilie in Iwanowo im zaristischen Russland geborene Theoretikerin des Nouveau Roman in ihrer Wohnung im Pariser Westen gestorben. Sie war sieben Monate jünger als das Jahrhundert. Bis vor zwei Jahren ging sie täglich schwimmen. Bis zuletzt schrieb sie und saß jeden Nachmittag in ihrem Stammcafé im 16. Pariser Arrondissement. Ihr 1982 verfasstes Theaterstück „pour un oui ou et pour un non“, das nichts weiter als zwei in ihre Beziehungen und Eitelkeiten verstrickte Männer auf einer kahlen Bühne zeigt, die sich gelegentlich den zentralen Satz: „C'est bien, ça!“ – Das ist gut, das! – zuspielen, läuft seit über einem Jahr in zwei Pariser Theatern.

Frankreich verliert eine „Schriftstellerin von universeller Bedeutung“ sagte Premierminister Jospin am Dienstagabend. Präsident Chirac nannte die Verstorbene „eine der größten Schriftstellerinnen dieses Jahrhunderts“. Und die Gemeinschaft der Intellektuellen in Paris erinnerte sich daran, wie oft Sarraute als Kandidatin für den Literaturnobelpreis im Gespräch war und dass ihr komplettes Werk bereits zu Lebzeiten in der „Pléiade“, der angesehenesten aller französischen Literaturausgaben, veröffentlicht wurde.

Die Ehrungen täuschen darüber hinweg, dass Sarraute jahrzehntelang im Verborgenen schrieb. Als ihr Erstlingswerk „Tropismes“ – das heute ihr bekanntestes Buch ist – erschien, reagierte allein Jean-Paul Sartre mit einem anerkennenden Brief an die völlig unbekannte Autorin. Erst viele Jahre später, nachdem Sarraute in einem Versteck in Frankreich das Vichy-Regime und die Besatzung überlebt hatte, wurde „Tropismes“ zum Grundstein für den „Nouveau Roman“, dem sich in den 50er-Jahren auch die französischen Schriftsteller Michel Butor und Alain Robbe-Grillet anschlossen.

„Ich will die inneren Momente einfangen, bevor sie ins Unbewusste abgleiten“, hat Sarraute ihre Technik erklärt. Sie fing die vagen Konturen des menschlichen Bewusstseins ein, Wünsche, Ängste und Gesten wie ein errötendes Gesicht. Sie schrieb intimistische Geschichten. Beschrieb Dialoge von Taubstummen, lange Monologe und noch längeres Schweigen. In Sarrautes Werk gibt es kaum Handlung. Und nie die Absicht, zu erzählen.

So etwas wie eine Autobiografie, um die sie oft gebeten wurde, nannte Sarraute eine „Lüge“. Dennoch schrieb sie 1993 ein Buch mit dem Titel „Enfance“ (Kindheit), dessen Geschichten sich zwischen Iwanowo, Sankt Petersburg und Paris entwickeln. „Enfance“ ist ein Dialog der Autorin mit sich selbst, in dem die Kapitel mit Worten eingeleitet sind wie: „Liebes Kopfkissen“, oder: „An wen richten sich die Postkarten, die Mama mir schickt?“. In keinem ihrer mehr als zwanzig Bücher hat Sarraute mehr über sich selbst erzählt.