Der Alb im Wald

Freud liegt mit Shakespeare in einem Bett aus Blumen: Michael Hoffman zeigt in seinem Film „Sommernachtstraum“ das liebenswerte Tier im Menschen  ■   Von Christian Semler

Fürst Theseus residiert in der Villa d'Este unweit Roms, während es sich seine Untertanen in Montepulciano, einer der Hochburgen der Toskana-Fraktion, gut gehen lassen. In seiner Verfilmung von Shakespeares Sommernachtstraum verfährt der Regisseur Michael Hoffman mit Schauplätzen der Handlung ähnlich großzügig wie ehemals der Dichter. Denn das Athen Shakespeares hatte wenig gemein mit dem gleichnamigen Ort des klassischen Hellas, dafür aber umso mehr mit dem London der „Virgin Queen“. Wie Shakespeare Theseus' Hof mit Charakteren seiner Zeit bevölkerte, ihn quasi heimisch machte fürs Publikum, so nutzt Hofmann unsere touristisch geprägte Wahrnehmung, um uns sacht an das Heimlich-Unheimliche des Stücks heranzuführen. Um aber zwischen uns als Liebhabern der Toskana und die Geschehnisse „vor Ort“ eine ästhetische Distanz zu legen, lässt er den „Sommernachtstraum“ um die Jahrhundertwende spielen. Die Szenerie ist zwar noch ländlich geprägt, aber die Moderne kündigt sich an. Nicht durch ein knatterndes Automobil als fürstliche Karosse, sondern durch den neuesten Hit schneller, aber doch naturverbundener Fortbewegung – das Fahrrad, bereits ausgestattet mit Bremsen und Dynamo und den beiden Damen Hermia und Helena zu Diensten bei ihrer Reise ins Traumland.

Die Übertragung der Handlung von Athen/London in italienisches Sehnsuchtsterritorium der Jahrhundertwende birgt zudem den Vorteil einer „authentischen“ Verwendung musikalischen Materials. Denn die Bühnenmusik Mendelssohn-Bartholdys, mehr noch die Arien Verdis und Donizettis, die uns in Hoffmans Film unablässig ins Ohr kriechen, drücken die Emotionen des „athenischen“ Hofes ebenso aus wie die des gemeinen Volkes und der Geister- und Feenschar. Sie laden das seltsame Märchen, das Shakespeare uns erzählt, nicht romantisch auf, sondern sind dessen selbstverständliche Folklore.

Das Reich der Sinne ist ein grünes Chaos

Unmittelbar unterhalb des sanften Hügels, auf dem Athen/Montepulciano liegt, beginnt der Wald, die Wildnis, der Ort der Verwandlung, das Reich des Geister-König-Ehepaars Oberon und Titania. Der Wald ist ein Meisterwerk der Architekten und Bühnenbildner Cinecittas. Aber ist es wirklich ein Wald oder eher der Sumpf, der rotbräunlich und dunkelgrün uns umschließt, bewohnt von allerhand eher ekligem Getier, unwegsam, gefährlich? Der Wald ist ein Produkt der Shakespeareschen metaphorischen Einbildungsskraft. Er kontrastiert die Welt festgelegter Normen und Erwartungen, die Welt der Erfahrung, der Anpassung ans Realitätsprinzip. Dieses Reich der Sinne hat der große Shakspeare-Forscher Northop Frye die „grüne Welt“ genannt. Die sie durchstreifen, entdecken das verwirrende unkontrollierbare und ungeordnete Terrain ihrer Seele, sie werden ihrer unterdrückten Möglichkeiten gewahr. Dem Leben am Tageslicht, das dem Prinzip von Maß und Mitte gehört, nach einer selbstbewussten Architektur gebaut ist, steht das Chaos der Lüste gegenüber – das Unbewusste. Nach der Irrfahrt durch den Wald werden nächtliche Wanderer wieder zur Realität finden. Zu einer reicheren – oder zu einer neurotisch durchpflügten.

Kein Wunder, dass Dr. Freud vom Beginn seiner Karriere an Shakespeare-Fan war und noch vor Entdeckung des Ödipuskomplexes irgendetwas dergleichen am Verhalten der Dramatis Personae des Sommernachtstraums ausmachte. Wer aber hier mit wem dachte, Freud mit Shakespeare oder Shakespeare mit Freud, ist sehr die Frage. Die „grüne Welt“ lässt sich nicht auf ein paar Hieroglyphen des Unbewussten reduzieren, sie lebt in ihrem eigenen Recht, sie entzieht sich der gebieterischen Forderung „aus Es werde Ich“.

In einer langen, unseligen Bühnentradition war Shakespeares grausames Märchen unter einem Wust von Feengeflatter, Lianen und Musik untergegangen. Ein Stück, das sich ebenso trefflich für Freilicht- wie für Schülerinszenierungen eignete, war doch der irrlichternde Hofstaat der Königin Titania ebenso günstig mit Kids zu besetzen wie die Rolle des Puck, des tückischen Geistes im Dienste des Waldkönigs Oberon.

Noch die Filminszenierung Max Reinhardts aus den Dreißigerjahren war nicht frei vom platten Romantizismus des Märchenwalds. Hoffman zitiert diese Tradition, aber „sein“ Wald ironisiert sie gleichzeitig. Man sieht die Waldgeister schuften an der Winde, die Titanias Blumenbett in die Höhe hievt, während Hermias und Helenas Fahrräder am Wurzelwerk der unwegsamen Waldwege straucheln.

In der konventionellen Interpretation des Sommernachtstraums werden drei Spielebenen sorgfältig voneinander getrennt. Die des Hofes, mit Theseus und seiner künftigen Gemahlin Hippolyta an der Spitze; die des Waldes, die von Oberon und Titania beherrscht werden, und die des gemeinen Volks der Handwerker, Letztere damit beschäftigt, zu Ehren des Fürstenpaars das Stück „Pyramus und Thisbe“ einzustudieren. Hoffman hat sich an diese Dreiteilung gehalten, obwohl sie bloßer Schein ist. Zwischen Theseus und Oberon, zwischen der sittsamen Hippolyta und Titania, zwischen Ober- und Unterwelt bestehen offensichtliche Korrespondenzen, genauer, Hippolyta ist Titania, Theseus Oberon.

Dem Publikum Shakespeares war nur zu klar, dass Theseus, dem Befreier, ein anrüchiges privates Vorleben anhaftete. Schließlich hatte er seine Braut Hippolyta gewaltsam ihrem Königreich, dem der Amazonen, entrissen. Und Hippolyta selbst, die scheinbar blasse, hingebungsvoll-konventionelle künftige Gattin? Hat sie jeglicher Aggression, jeglicher dunklen Leidenschaft entsagt? Als Puck auf Weisung Oberons Titania die Liebes-Blütentropfen über die Augen streicht, sodass sie den Erstbesten, den sie sieht, sei's Mensch, sei's Tier, lieben muss, betreibt er Wunscherfüllung. Und dieser Erste, es ist niemand anders als der Weber Bottom (eigentlich Boden, so die deutsche Übersetzung bei Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel), der Initiator des Handwerker-Laienspiels, dem von Puck anlässlich einer Probe von „Pyramus und Thisbe“ im Wald ein Eselskopf angezaubert wurde. Wofür ein Esel stand, war zu Shakespeares Zeiten evident: für Potenz, phallische Energie, für Wollust. Schließlich gehörte das literarische Vorbild, Apuleus „Goldener Esel“, zur Lieblingslektüre des gebildeten elisabethanischen Publikums.

Und Theseus selbst? Spiegelt der Streit Oberons und Titanias um den lieblichen indischen Knaben der Feenkönigin nicht die verborgene schwule Leidenschaft des Herrschers übers Realitätsprinzip? Liebt er in Hippolyta etwa die von ihm unterdrückte männliche Seite der ehemaligen Amazonenkönigin? Und will er den indischen Knaben wirklich nur als Pagen seiner Jagdgesellschaft?

Hoffman hat den Oberon von einer Art jugendlichem Rock Hudson spielen lassen. Die homoerotischen Neigungen des Waldkönigs werden so evident, aber Theseus und Oberon bleiben ebenso säuberlich getrennt wie Hippolyta und Titania. Als Bottom von Titania ins Blumenbett gezogen wird, sieht er aus wie ein ungemein appetitlicher, niedlicher, reich behaarter Alternativer. Zwar hat er Eselsohren, aber die zieren den Schauspieler Kevin Kline ungemein. Von der Gewalt des Eros keine Spur mehr – und das, obwohl die Surrealisten seit Max Ernsts „Femmes à cent têtes“ uns doch gelehrt haben, wie Tierkopf im Verein mit Abendkleid bzw. Smoking ihre suggestive Wirkung entfalten.

Trotz ihrer formidablen Fahrräder bleiben die Abenteuer von Hermia und Helena im Wald blass angesichts der Liebesnacht Titanias mit Bottom. Es handelt sich hier um zwei eigensinnige junge Damen: Die eine, Hermia, weigert sich, den ihr elterlich zugedachten Demetrius zu heiraten, und liebt stattdessen Lysander, während die andere, Helena, vergeblich Demetrius anhimmelt. Lysander/Hermia fliehen in den Wald, gefolgt von Demetrius, dem Helena auf dem Fahrradsattel hinterherjagt. Puck irrt sich (oder ist es Absicht?) mit den Blütentropfen, und schon wird Helena von beiden Männern geliebt, hält das Ganze aber für einen üblen Scherz der Freunde und flieht. Am nächsten Morgen bringt Puck die Wirrnis wieder in Ordnung und führt die „richtigen“ Paare zusammen.

Schlammcatchen statt Liebesreigen

Was Hermia und Helena als Opfer der „Translation“, der Verwandlung, interessant macht, sind nicht die neuen Erfahrungen der „grünen Welt“ – die beiden bleiben sich eigentlich gleich bis zum Schluss. Uns wirft die Brutalität um, mit der Hermia von beiden Männern traktiert wird, die Abruptheit, mit der sie sich von ihr abwenden, der Hass, mit dem die verlassene Hermia ihre (scheinbar) glücklichere Freundin verfolgt. Hermias Abrechnung mit Helena endet bei Hoffman als dekorativer Ringkampf im Schlammtümpel, in dem nicht nur Shakespeares Witz untergeht, sondern auch die Schärfe und Unbedingtheit des Albtraums.

Wer träumt eigentlich den Sommernachtstraum? Theseus und Hippolyta? Die beiden Liebespaare? Shakespeare? Das Publikum? Die Aufführung von „Pyramus und Thisbe“ im letzten Akt der Komödie verweist uns mit ihrer gewollten Plumpheit, ihrem Misstrauen gegen jegliche Einbildungskraft, ihrem opportunistischen Schielen auf das, was dem aristokratischen Publikum wohl zumutbar wäre, auf den Triumph der Imagination im vorangegangenen Sommernachtstraum. Mit diesem Beweis ex negativo wollte sich Hoffman nicht zufrieden geben. Er lässt die (männlich dargestellte) Thisbe eine schöne, überhaupt nicht schmierenkomödiantische Klage über den toten Geliebten anstimmen. Der Hof, das Publikum und die Kinobesucher sind berührt. Die Schauspieltruppe Bottoms ist über ihre unfreiwillig komische Dienstleistungsfunktion hinausgewachsen. Sie nimmt teil an der Traumproduktion. Bis schließlich Puck, als Straßenfeger mit einem großen Besen bewaffnet, zum letzten großen Kehraus-Monolog ansetzt. „Ein Sommernachtstraum“ nach William Shakespeare; Regie: Michael Hoffman; mit Kevin Kline, Michelle Pfeiffer, Rupert Everett, Stanley Tucci u. a.; USA 1998, 118 Min.