■ Lafontaine mag mit seiner Linie falsch liegen – aber das wenigstens richtig. Die SPD kann seine Kritik nicht ignorieren
: Der linke Herzschrittmacher

Die SPD wird derzeit bestraft, weil sie sich selbst nicht mehr glaubt

Er äußere sich nicht zu Schriftstellern. Mit diesem Bonmot kommentierte Gerhard Schröder das erste Interview Oskar Lafontaines nach langer Zeit. Wenige Tage später äußerte sich Gerhard Schröder zur Verleihung des Literaturnobelpreises an Günter Grass. Nicht das erste Mal, dass Schröder ein Prinzip über Bord warf, und zugleich ein deutlicher Hinweis darauf, dass flotte Sprüche nicht ausreichen werden, um mit Lafontaine fertigzuwerden. Denn dessen Kritik hat, woran es der Regierung mangelt: Substanz.

Die Führungsspitze der SPD verweigert die Lektüre des Lafontaine-Buches mit der gleichen ostentativen Sturheit, mit der sie die Wählerbotschaften der letzten Monate ignoriert. Doch die Unart des Lafontaineschen Rücktritts hat vielleicht seinen Auftritt als Kritiker entwertet, aber nicht seine Kritik. Schließlich wird diese ganz offensichtlich von vielen SPD-Wählern geteilt. Buchmessen kann eine Partei vielleicht ignorieren, Landtagswahlen nicht.

Warum wählen die Menschen nicht mehr die SPD? Und warum taten sie dies noch vor einem Jahr? In Schröders Optik haben die Menschen vor allem ihn gewählt – trotz der traditionellen SPD-Programmatik. Vorübergehend wurden sie von den Maßnahmen abgeschreckt, die die Traditionalisten während der ersten 100 Tage durchgesetzt hatten, als Schröder noch mit der Anprobe seiner Regierungsroben beschäftigt war.

Lafontaines Sicht der Dinge ist weit plausibler. Die SPD-Wähler des Herbstes 1998 waren von Anfang an, spätestens aber seit seinem Abgang, desillusioniert. Schröder haben sie demnach gewählt, weil er der durchsetzungsstarke Garant für die Wertordnung der SPD zu sein schien. Den Wahlen fern bleiben sie nun, weil Schröder, wenn überhaupt etwas, dann nicht ihre Interessen durchsetzt. Die Basisverbundenheit Lafontaines kommt übrigens auch darin zum Ausdruck: Etwas Besseres als ihm ist den SPD-Wählern zur Bekämpfung ihrer Depressionen auch nicht eingefallen. Auch sie bleiben einfach zu Hause.

What's left? Wesenhaft für die Sozialdemokratie ist die Überzeugung, dass zur Überwindung des aussichtslosen Klassenkampfes eine Beteiligung der Arbeitnehmer am politischen System erforderlich ist. Weil die Mehrheit der Bevölkerung abhängig Beschäftigte und Beschäftigungslose sind, ist die Erringung der Herrschaft bei Einsicht der Betroffenen in ihre Interessen zwangsläufig. Da das politische System in einem demokratischen Staat schließlich dem wirtschaftlichen System übergeordnet ist, kann dann mächtig zugunsten der Arbeitnehmer interveniert werden. Es gibt gute Gründe, dieser Logik zu folgen.

Andere Linke, Kommunisten nämlich, halten es für unvermeidlich, zur Herstellung von Gerechtigkeit die Eigentumsordnung grundstürzend zu ändern und das Gleichheitspostulat zu verabsolutieren, bis hin zur Unterdrückung von Freiheit. Christdemokraten wiederum wollen Arbeitnehmer überzeugen, dass sie ihre unmittelbaren Interessen zu einem Gemeinwohl abstrahieren, das eine Regierung dann erzielen kann, wenn auch Arbeitgeber soziale Stabilität als Standortfaktor anerkennen und dafür – im ebenso wohlverstandenen langfristigen Eigeninteresse – einen ökonomischen Preis zu zahlen bereit sind. Das Bündnis für Arbeit ist so gesehen eine klassische Institution der christlichen Soziallehre. Leider war in der Union zuletzt niemand mehr außer Heiner Geißler in der Lage, dies auch nur zu erkennen, geschweige denn das Bündnis zu einem Erfolg zu führen.

Die Wähler sind daher im letzten Herbst dem sozialdemokratischen Weg, Gerechtigkeit zu erzielen, gefolgt. Lafontaines Politik seitdem war, im Rahmen des sozialdemokratischen Weltbildes, konsequent. Es ist konsequent, die Leistungen für Familien so zu erhöhen, dass Fortpflanzung nicht zu einem Vorrecht der Vermögenden wird. Es ist konsequent, die Geldpolitik in den Dienst der Arbeitsplatzschaffung zu stellen. Es ist konsequent, mit international weitaus stärker abgestimmter Wirtschaftspolitik auf die Globalisierung, also die transnationale Entmachtung nationaler Politik durch das internationale Kapital, zu reagieren. Es ist konsequent, die steuerliche Bemessungsgrundlage so zu verbreitern (Entlastung kleiner Einkommen, Vermögenssteuer, Ökosteuer, Erbschaftssteuer etc.), dass die Solidargemeinschaft nicht zu einem Club für Schlechterverdienende schrumpft.

Für diese Politik sind die SPD und Schröder gewählt worden. Und deshalb hat Schröder die Pflicht und Schuldigkeit, diese Politik auch zu machen.

Die CDU hat in den letzten Regierungsjahren jede Unternehmer-Sprechblase getreulich nachgebetet und die Politik in der Wahrnehmung der Menschen zu einer Standortverwaltung degradiert. Sie hat einen symbolischen Kampf gegen die Globalisierung auf Nebenkriegsschauplätzen wie der Ausländerpolitik geführt und die Menschen den ökonomischen und sozialen Folgen der Globalisierung ansonsten achselzuckend ausgesetzt. Dafür ist sie vom Wähler bestraft worden, der jetzt aber nicht noch einmal dieselben Sprüche aus dem Mund von SPD-Chargen hören möchte. Doch Schröder, Mosdorf, Bury und Co. reicht es, auf einem Unternehmerempfang anerkennendes Schulterklopfen zu ernten. Und schließlich: Dass und wie Lafontaine den Hut nahm, hat der SPD gewiss weniger geschadet als die zur Schau getragene Fehleinschätzung Schröders, der Mantel der Geschichte könne nur ein Brioni-Mantel sein.

Lafontaine hat versucht, konsequent sozialdemokratische Politik zu machen

Die sozialdemokratische Gemeinde tut gut daran, die Enzyklika des Gegenpapstes von der Saar zu lesen. Auch weil andere Parteien vom Abfall der SPD vom eigenen Glauben profitieren. Die PDS siegt im Osten – der Union fallen Siege wie Sterntaler in die Schürze. Sie gewinnt Rathäuser, Länder und Bundesratssitze – aber sie gewinnt keine Wähler. Allein die Abwesenheit von potenziellen SPD-Wählern jagt ihre Stimmenanteile in unwirkliche Höhen. Wo die Wahlbeteiligung nicht fällt, wie in Sachsen, bleibt die CDU, wo sie ist. Verfügte die CDU über einen machtvollen linken Flügel, könnte sie – wie schon einmal 1983 in West- und 1990 in Ostdeutschland – eine tatsächliche politische Heimat für die klassische sozialdemokratische Klientel werden. Breitbandchristdemokraten wie Peter Müller, Annette Schavan, Christian Wulff und Christoph Böhr wird dies regional gelingen.

Wenn das Herz links schlägt, braucht die SPD dringend einen Herzschrittmacher. Lafontaine, so eine Spitzengenossin verbittert, habe die SPD weggeworfen wie ein Spielzeug. Das stimmt, aber er hat sie als Vorsitzender nicht behandelt wie ein Spielzeug. Das tut jetzt sein Nachfolger. So werden Wähler verspielt und ein Erbe. Ein linkes Spiel? Ein garstiges.

Markus Schubert