Unsere Soldaten sind hungrig und verlaust“

■ Auch in diesem Tschetschenienkrieg werden wieder russische Wehrpflichtige eingesetzt. Der Einsatz ist zudem ein Kriegsverbrechen, sagt Walentina Melnikowa vom Verband der Soldatenmütter

Walentina Melnikowa (53) war Mitbegründerin des „Komitees der Soldatenmütter Russlands“, das 1996 den Alternativen Nobelpreis erhielt. Heute ist sie „verantwortliche Sekretärin“ von dessen Nachfolgeorganisation, des „Verbandes der Soldatenmütter-Organisationen“.

taz: Präsident Boris Jelzin hatte zu Beginn des neuen Tschetschenienkrieges versprochen, diesmal nur erfahrene Berufssoldaten einzusetzen.

Walentina Melnikowa: Alles gelogen! Wir schätzen, dass in Tschetschenien und Dagestan, wo auch noch gekämpft wird, mindestens 30.000 Jungs eingesetzt sind, die im ersten Jahr ihres Wehrdienstes stehen.

Eine bewusste Lüge?

Noch nie haben die Militärs so unverfroren und dumm gelogen wie heute. Was sich jetzt bei uns tut, das ist ungeheuerlich. So etwas hat es seit dem Wüten Berijas [Stalins Geheimdienstchef; d. Red.] nicht mehr gegeben. Letzte Woche hat Jelzin einen Ukas unterschrieben, demzufolge Rekruten erst nach sechsmonatigem Wehrdienst an die Front geschickt werden sollen. Das wird jetzt als Fortschritt verkauft. Dabei war in genau so einem Ukas vom 16. September noch die Rede von zwölf Monaten Ausbildung vor dem Einsatz gewesen. Die Stimmung bei den Eltern junger Männer ist wie 1995. Nur dass wir jetzt alle weniger Informationen haben als damals. Weil alles verschwiegen wird.

Wie lange dauert der Wehrdienst?

Zwei Jahre. Und zu allem Überfluss hat der Verteidigungsminister jetzt einen Antrag zur Änderung des Gesetzes über den Wehrdienst gestellt. Demnach soll all denen, die an Kampfhandlungen teilnehmen, die Dauer des Dienstes um sechs Monate verlängert werden – anstatt ihnen einen Tag an der Front für drei anzurechnen. Das ist teuflisch!

Was wissen Sie über Verluste?

Wir können nur Schlüsse ziehen. Ein Anhaltspunkt ist für uns der Augustfeldzug in Dagestan. Dabei verzeichnete unsere Armee 280 Tote und etwa 1.000 Verwundete. Inzwischen muss die Zahl der Toten auf zirka 400 gestiegen sein, weil viele der Schwerverwundeten gestorben sind. Dies alles betrifft nur die reguläre Armee, nicht die Verluste der Sondereinheiten des Innenministeriums. Die Zahl der Toten auf unserer Seite in Tschetschenien ist sehr schwer zu schätzen. Aber Verwundete müssen es schon über 500 sein. Unsere Militärs verplappern sich ja manchmal.

Planen Sie Aktionen?

Nein, weil es heute niemanden in Russland gibt, an den wir appellieren können. Sollen wir uns etwa vor Jelzins Krankenhaustor mit Plakaten aufstellen? Russland wird heute nur noch vom Generalstab kommandiert, das heisst von der reinen Willkür. Es gibt kein offizielles Dokument, auf das sich der Einmarsch unserer Armee in Tschetschenien stützt. Wie soll man also rechtlich qualifizieren, was jetzt dort unten passiert? Der Vorsitzende des Verteidigungskomitees der Duma hat mich neulich damit abgespeist, dass das Territorium der Kampfhandlungen in einem Präsidenten-Ukas festgelegt sei. Aber niemand kennt diesen Ukas. Ist der etwa geheim? Da es für die Aktivitäten unserer Armee in Tschetschenien offenbar keinerlei juristische Grundlage gibt, können wir sie nur als Kriegsverbrechen betrachten.

Es heißt in den Nachrichten, dass die russischen Soldaten in der so genannten sanitären Zone, die sie in Westtschetschenien besetzt halten, die Bevölkerung versorgen würden. Stimmt das?

All das Gerede darüber, dass sie dort humanitäre Hilfe leisten, ist leeres Gekläff. Unsere Soldaten sind selbst hungrig, verlaust und schlecht beschuht. Außerdem müssen bei der Art von Waffen, die dort eingesetzt werden, automatisch jede Menge von Wohnhäusern vernichtet werden. Dort herrscht der totale Krieg. Aber ich möchte bei dieser Gelegenheit auch etwas zu den Begriffen sagen, die unsere Militärs benutzen. Was heißt überhaupt „sanitäre Zone?“. Haben wir dort eine Epidemie? Und wenn ja, welche, die Pest oder die Cholera?

Wie erklärt sich dieses Mal die ausgesprochen seltsame Wortwahl der Militärs?

Das kommt von ihrer Weltsicht. Generalstabschef Kwaschnin und fast alle hohen Offiziere sind psychisch im Jahre 1982 steckengeblieben und kämpfen im Geiste immer noch in Afghanistan. Deshalb ist ihre Beziehung zur Zivilbevölkerung in Tschetschenien auch die gleiche wie dort – eine Feindbeziehung. Dann faseln sie auch noch davon, dass wir im Kaukasus gegen irgendwelche „Wahhabiten“ vorgehen. Führen wir also einen Religionskrieg? Demnach wären wir ja ins Zeitalter der Kreuzzüge zurückgesunken.

Aber im Westen entsteht jetzt der Eindruck, die russische Armee habe aus ihren Fehlern 1994– 96 gelernt und sei sehr viel besser vorbereitet .

Ich dachte immer, bei der Nato säßen Fachleute. Es hat doch keinerlei Reform in unserer Armee gegeben. Seit 1996 hat sich da nur eines geändert: Die Offiziere saufen noch mehr.