Denn sie wissen, was sie tun

In den Achtzigerjahren machte das zentralamerikanische El Salvador wegen seines Bürgerkriegs Schlagzeilen. Seit über sieben Jahren herrscht Friede. Doch die Gewalt hat nicht abgenommen. Nach Guerilleros und Diktatoren ist eine andere Gruppe zum Symbol einer kaputten Gesellschaft geworden: „Maras“, tödliche Jugendbanden Von Toni Keppeler (Text) und Yvonne M. Berardi (Fotos)

Er hat dunkle melancholische Augen. Sein pechschwarzes Haar ist sauber gestutzt, im Nacken trägt er ein Schwänzchen. Eigentlich ist Gustavo Adolfo Morales ein hübscher Junge, wären da nicht die Tätowierungen in seinem Gesicht: ein grosses „MS“ auf der Stirn, eine „13“ auf dem Kinn, ein Kreuz im Augenwinkel. Die Buchstaben „MS“ und die „13“ stehen für „Mara Salvatrucha 13“, das Kreuz steht für Mord. Das Wort „Mara“ bedeutete bis vor ein paar Jahren noch so etwas wie „Freundeskreis“. Es wurde für kirchliche Jugendgruppen genauso verwendet wie für Fußballklubs. Heute denken Salvadorianer bei diesem Wort an Männer wie Gustavo, an Raubüberfälle, Pistolen, Handgranaten und Tote.

„Salvatrucha“ ist eine Verballhornung von „salvadorianisch“, denn die „Mara Salvatrucha“ ist eine salvadorianische Jugendbande. Es gibt sie nicht nur in El Salvador. Sie hat Ableger in den großen Städten der Nachbarländer Honduras und Guatemala. Aber ihre Ursprünge liegen in Los Angeles, in den USA. In den dortigen Latinovierteln werden ganze Straßenzüge von salvadorianischen Jugendlichen kontrolliert.

Die „13“ bezeichnet den Buchstaben „M“, den dreizehnten im spanischen Alphabet. „M“ wiederum steht für „Mara“. Viele Maras führen die Unglückszahl 13 im Namen. Gustavo Adolfo Morales, besser bekannt unter seinem Maranamen „El Directo“, ist das prominenteste Mitglied der „MS 13“. Die salvadorianischen Medien haben aus ihm ein Monster gemacht. Einen Charles Manson von zentralamerikanischem Zuschnitt. Einen, der Lust empfindet beim grausamen Mord.

Im Besucherraum des Gefängnisses der Provinzstadt San Francisco Gotera wirkt er gar nicht wie ein Supermacho, eher wie ein schüchterner Junge. „Nein“, sagt er leise. „Ich will nicht reden.“ Er blickt stur auf den Boden.

Gustavo ist siebzehn Jahre alt. Er soll siebzehn Menschen getötet haben. Einen für jedes Lebensjahr. Seine Geschichte ist auch die El Salvadors – wie durch ein Brennglas gesehen. Gustavo Adolfo Morales wurde am 24. Januar 1982 im Viertel „Panamericana“ in San Miguel im Osten des Landes geboren. Seine Mutter Dora Alicia Morales: „Es war die Nacht, in der Don Mario starb.“

Dora Alicia war damals sechzehn, arbeitete als Hausmädchen und war von irgendwem geschwängert worden. Don Mario war ihr Nachbar. In der Nacht vor ihrer ersten Geburt zog ein Soldat vor ihrer Hütte die Sicherung einer Handgranate, weil er die Gräuel nicht mehr ertragen konnte, die er im Bürgerkrieg gesehen hatte. Er riss Don Mario mit in den Tod.

Gustavo war kein Wunschkind. Auch seine fünf jüngeren Geschwister waren es nicht. „Sie kamen zur Welt, weil Gott es wollte“, sagt Dora Alicia. Väter gab es nur zeitweise in der Familie. Die Mutter hat ihren Ältesten nie sehr geliebt. Sie hat das stille Kind oft beim Nachbarn abgestellt, als sie für andere Leute Wäsche wusch. Und sie hat es misshandelt. „Sie hat ihn viel öfter geschlagen, als es nötig gewesen wäre“, erzählt der Nachbar.

Fast vier Jahre ging Gustavo in die Schule. Länger sitzt kaum ein Kind aus den Armenvierteln auf der Schulbank. Bleistifte, Hefte, die Schuluniform – all das ist für viele nicht erschwinglich. Die Mutter sagt, sie habe ihn von der Schule genommen, weil er sich gegen andere Kinder nicht zur Wehr setzen konnte. Wahrscheinlicher ist, dass er auf die Geschwister aufpassen und ab und zu kleinere Arbeiten erledigen musste. Es herrschte Hunger in der Hütte von Dora Alicia.

Ein Bäcker aus der Nachbarschaft erinnert sich, dass der kleine Gustavo oft gekommen ist, um die Brotkrusten abzukratzen, die an den Blechen hängen geblieben waren. „Ich hab' ihn das machen lassen. Er hat er mir ja nichts gestohlen.“ Später hat der Junge dort auch gearbeitet. Zuerst als Brotausträger, dann als Handlanger in der Backstube. Nach ein paar Monaten aber schmiss Gustavo die Arbeit hin. Er war dreizehn und schloss sich der Mara des Stadtviertels an. „Die mutigen Verrückten“ nennt sich die Clique, zu der vielleicht dreißig Jugendliche gehören.

Die Bande kontrolliert nicht nur das Armenviertel Panamericana, sondern auch die beiden angrenzenden Wohngebiete. Für Mitglieder anderer Maras ist diese Gegend damit tabu. Wehe, es nähert sich einer. Dann gibt es Mord und Totschlag. Die Bewohner selbst jedoch brauchen die ortsansässige Bande nicht zu fürchten. Überfälle und Einbrüche werden nur außerhalb der eigenen Zone verübt. Das gehört zum Ehrenkodex.

Doch die „mutigen Verrückten“ waren härter als andere Cliquen, und vieles deutet darauf hin, dass die Eskalation der Gewalt von Gustavo ausging. Er bekam den Maranamen „El Directo“. „Ich glaube, weil er immer direkt zur Sache ging“, sagt ein Jugendlicher aus der Nachbarschaft. Aber so genau erinnert sich niemand.

Jedenfalls hat El Directo schon nach wenigen Monaten den Führer seiner Clique erschossen, und das ist ungewöhnlich. Denn eine Mara funktioniert wie ein Rudel, das nach innen mit einer von allen respektierten Hierarchie den Frieden wahrt, nach außen aber aggressiv ist.

Respekt verdient man sich im Kampf mit anderen Maras. Gewalt gegen die eigenen Leute gibt es nur, wenn diese das innere Regelwerk verletzten. Übertretungen können selbst mit dem Tod bestraft werden. El Directo kümmerte sich wenig um Regeln. Er tötete nicht nur den Cliquenchef, erschlug auch dessen Freundin, nachdem er sie vergewaltigt und gefoltert hatte. Und er erschlug die eigene Freundin, als er das Interesse an ihr verloren hatte. Das verschaffte ihm Respekt.

Alle taten, was er befahl. Und er befahl, dass niemand mehr außer den Bewohnern nach Einbruch der Dunkelheit die von ihm kontrollierte Zone passieren durfte. Vor allem für junge Mädchen endete die Missachtung dieses Befehls oft tödlich. Sie wurden von der Bande zu einem heruntergekommenen Basketballplatz geschleppt, den sie „Destroyer“ nennen. Dort wurden sie vergewaltigt, gefoltert und erschlagen. Die Leichen wurden dann in irgendeinen Trinkwasserbrunnen geworfen, die im Armenviertel das Leitungssystem ersetzen.

Polizeiliche Ermittlungen ergaben später, dass El Directo und seine Mara bei ihrem grausigen Tun nach einem Folterhandbuch vorgegangen sind, das im Bürgerkrieg von der Armee verwendet worden war. Doch zunächst gab es keine Ermittlungen. Zwar wurde immer wieder das Skelett eines Ermordeten aus einem Brunnen gezogen. Doch es handelte sich um die Leichen von Armen. Kein Grund, größere Untersuchungen anzustellen. Die Polizeiberichte sprachen lapidar von „Auseinandersetzungen zwischen Jugendbanden“.

Die Behörden ermittelten erst, als ein Mädchen die Tortur wie durch ein Wunder überlebte und sich, aus dem Koma erwacht, an El Directo erinnerte. Nach vier Jahren und wahrscheinlich siebzehn Morden wurde der Bandenführer verhaftet. Man wies ihm sieben Tötungsdelikte nach. Er wurde zu sieben Jahren Jugendhaft verurteilt, die Höchststrafe, die das Gesetz für Minderjährige vorsieht.

Jedes Kind in El Salvador kennt heute El Directo. Dabei ist Gustavo nur einer unter vielen. Das zumindest behaupten ehemalige und noch aktive Maramitglieder. Er mag ein durchgeknallter Psychopath sein, seine Maraclique eine Bande von Verrückten. Letztlich aber ist ganz El Salvador verrückt, und El Directo und die „mutigen Verrückten“ sind nur ein Spiegelbild davon.

Jugendbanden gibt es fast überall in Amerika. Nirgendwo aber sind sie so verbreitet wie in El Salvador. Allein im Großraum San Salvador mit seinen rund anderthalb Millionen Einwohnern sind mehr als zwanzigtausend Jugendliche in Maras unterwegs. Die Soziologin Marcela Smutt nennt sie „das wichtigste und komplexeste kulturelle Phänomen der Neunzigerjahre“ und einen Ausdruck der kaputten Gesellschaft dieses Landes.

Kurz zusammengefasst nennt Smutt ein Bündel von Problemen, mit denen sich Jugendliche aus Armenvierteln konfrontiert sehen und die im Verbund einer Mara erträglicher werden: die beschleunigte und planlose Verstädterung und das Auseinanderbrechen traditioneller Familienstrukturen in solchen Molochen. Ein mangelhaftes Bildungssystem und ein fehlender Arbeitsmarkt für Jugendliche. Und schließlich eine Kindheit, geprägt von schwerer, ständiger Gewalt.

Soyapango, ein Vorort im Osten San Salvadors, sieht fast so aus, als sei er von böswilligen Sozialwissenschaftlern eigens eingerichtet worden, um die Auswirkungen dieser Negativfaktoren in einem großangelegten Laborversuch zu studieren. Gut vierhunderttausend Menschen leben dort. Achtzehn Maras beherrschen den Ort. In manche Gegenden traut sich nicht einmal die Polizei.

Und dabei gehört Soyapango nicht zum sogenannten „Slumgürtel“, der fast überall in der Dritten Welt die Metropolen einschnürt. Die meisten Wohngebiete sehen aus der Ferne ganz ordentlich aus: kleine eingeschossige Reihenhäuschen, eines ans andere geklebt. In Europa würde man so etwas „sozialen Wohnungsbau“ nennen. In einer Gasse von hundert Metern Länge stehen sechzig solcher Häuschen. Vierundzwanzig Quadratmeter Wohnfläche pro Einheit, belegt von durchschnittlich sieben Menschen.

Der Volksmund nennt solche Wohngebiete „Streichholzschachtelsiedlungen“. Der Architekt Jaime Funes sagt: „Die althergebrachte Sozialstruktur der Stadt wurde durch das Zusammenpferchen von Menschen ersetzt.“ Solche Wohnviertel sind in den vergangenen Jahren am Rande aller größeren Städte entstanden. Im Bürgerkrieg von 1980 bis 1992 verfolgte die Armee die Strategie, die Rückzugsgebiete der Guerilla im Hinterland zu entvölkern. Zu Zehntausenden strömten Flüchtlinge in die Städte und kamen dort zunächst in improvisierten Auffanglagern, später in Wellblech- und Kartonsiedlungen unter. Die tradtionelle ländliche Grossfamilie aus drei bis vier Generationen ging dabei in die Brüche. Meist blieb nur ein Familienfragment rund um die Mutter übrig, mit häufig wechselnden Vätern.

In der Nachkriegszeit wurden viele dieser Slums durch planlos in die Landschaft gestellte Streichholzschachtel-Siedlungen ersetzt. Für den Architekten Jaime Funes sind sie „ein extrem neurotisierender Lebensraum“, in dem die Bewohner „sozial erwürgt“ werden. Die Soziologin Smutt erkennt darin „das ideale Umfeld für das Entstehen und die Verbreitung von Jugendbanden“. Denn zu Hause haben die Heranwachsenden keine privaten Freiräume, draußen gibt es keinen kollektiven Erholungsraum. Keine Bolzplätze, keine Grünanlagen, keine Parks. „Wenn wir nicht auf der Strasse herumlungern sollen, was sollen wir dann tun?“ sagt der achtzehnjährige Jaime, Mitglied einer Mara in Soyapango.

Jugendliche haben tatsächlich nichts anderes zu tun. Die Jugendarbeitslosigkeit in den Streichholzschachtelsiedlungen nähert sich oft den hundert Prozent. Es bleibt nur die Straße. Dort bilden sich schnell Cliquen. Das Stadtviertel ist alles, was sie haben, und deshalb geht ihnen ihr Stadtviertel über alles. Im Prinzip benehmen sich salvadorianische Jugendliche nicht viel anders als Jugendliche anderer Länder: Sie sitzen zusammen, sie reden, sie rauchen, sie trinken, auch Bier und Schnaps. Und weil es in El Salvador sehr einfach ist, an Drogen zu kommen, nehmen die Jugendlichen auch da alles, was sie kriegen können: Marihuana, Kokain, Crack, und wenn gar nichts mehr geht, schnüffeln sie Lösungsmittel.

Und wie Jugendcliquen in anderen Ländern auch haben sie ihre eigene Sprache und ihre eigene Mode. Maramitglieder tragen Jeans und T-Shirts, die mindestens drei Nummern zu groß sein müssen. Dazu Sportschuhe, am besten die irgendeiner Edelmarke. Die Tracht der US-amerikanischen Rapper. Ihre Sprache verwendet viele altertümelnde Worte, die sonst nur noch in entlegenen Gegenden auf dem Land benutzt werden. In diesen eher hinterwäldlerischen Dialekt sind englische Versatzstücke geflochten. In den Latinovierteln der US-amerikanischen Großstädte nennt man diesen Mischmasch „Spanglish“. Völlig unverständlich werden Unterhaltungen, wenn Maras ihre Zeichensprache verwenden, für die gelenkige Finger nötig sind.

Rappermode und „Spanglish“ deuten auf den Ursprung der Maras. Der liegt in Los Angeles. Während des Bürgerkriegs in den Achtzigerjahren flohen Hunderttausende mit ihren Familien in den Norden. Der Auswandererstrom hielt auch nach dem Friedensschluss an. Heute suchen sie als illegale Arbeitskräfte ein besseres Auskommen im Norden. Sechs Millionen Salvadorianer leben in der Heimat. Mindestens anderthalb Millionen sind im Ausland, davon mindestens eine Million in den USA. Illegale Arbeitskraft ist das wichtigste Exportprodukt El Salvadors. Woche für Woche kommen gut fünfzig zurück. Die meisten von ihnen sind Jugendliche, die im Norden mit dem Gesetz in Konflikt kamen, die aufgegriffen und abgeschoben wurden. Sie brachten die Maraidee nach El Salvador.

Die Underdogs in den Latinovierteln der Westküste der USA organisieren sich schon lange in Gangs. Die Mara Salvatrucha wurde in Los Angeles gegründet und hat dort heute schätzungsweise 3.500 Mitglieder. Auch ihre Todfeinde von der „Mara 18“ kommen ursprünglich aus dieser Stadt. Sie kontrollieren dort die Gegend um die 18. Street. Die abgeschobenen Jugendlichen aus den USA waren in ihrem kurzen Leben schon dreimal ausgestoßen worden: Aus El Salvador sind sie wegen des Bürgerkriegs oder aus wirtschaftlicher Not geflohen. In den Vereinigten Staaten waren sie als Illegale von vorne herein an den Rand gedrängt. Und zurück in El Salvador ist wieder kein Platz für sie in der Gesellschaft. Aber sie brachten Gangerfahrung, Mode und einen schicken Wortschatz mit.

„Abgeschobene Jugendliche aus den USA“, sagt Smutt, „sind dafür prädestiniert, Chef einer Maraclique zu werden.“ Für die Soziologin sind Maras „Verteidigungsgruppen“ von Ausgestoßenen. Als solche sind sie jedoch kein Protest gegen die Gesellschaft, sondern ein Spiegel von ihr. Eine Umfrage unter Maramitgliedern stellte eine Werteskala fest, die der offiziellen Regierungspropaganda fast aufs Haar genau gleicht: Ganz oben in der Liste steht das Stadtviertel, gefolgt von der Mutter und der Religion. „Ich lebe für meine Mutter und sterbe für mein Viertel“, sagt der 26-jährige Santos, Mitglied der „MS 13“ in Soyapango. „Ohne Gott sind wir nichts; er ist der Einzige, der uns retten kann“, sagt sein neunzehnjähriger Kumpel Ricardo.

Ihr Stadtviertel markieren Maras mit Graffiti. Religiöse Symbole sind dabei genauso häufig wie Hommagen an die Mutter. Die Bitte „Mütterlein, vergib mir mein verrücktes Leben“ tragen viele Maramitglieder als Tätowierung auf der Haut. Als Papst Johannes Paul II. Anfang 1996 El Salvador besuchte, schmückten Maras den Weg vom Flughafen ins Zentrum von San Salvador mit religiösen Wandmalereien. Der Kult um Mutterschaft und Kirche findet sich genauso in der offiziellen Politik. So hat es zum Beispiel die katholische Kirche Anfang dieses Jahres geschafft, das Parlament zu einer Verfassungsänderung zu bewegen, nach der jede Art von Schwangerschaftsabbruch, auch nach einer Vergewaltigung, für abtreibende Frauen und Ärzte strafbar ist. Selbst die Partei der ehemaligen Guerilla kapitulierte vor Mutterkult und fundamentalem Glauben.

Die Hingabe der Maras an ihr Stadtviertel erscheint wie ein Gegenstück zu dem sinnleeren Nationalismus, der von linken wie rechten Parteien propagiert wird. Die seit zehn Jahren regierende „Republikanisch-nationalistische Allianz“ (Arena) gewinnt mit dem Slogan: „Erstens: El Salvador. Zweitens: El Salvador. Drittens: El Salvador“ eine Wahl nach der anderen. Wer diesen tumben Provinzialismus nicht teilt, gilt als Feind. Maras leben diese Wagenburgmentalität aggressiv aus. „Die anderen sind unsere Feinde“, sagt der siebzehnjährige Edgardo. „Sie wollen das Sagen haben in unserem Viertel und sie wollen, dass wir verschwinden.“

Die anderen sagen dasselbe. Und so muss man sich eben im Kampf bewähren. Einem Angriff folgt die Rache, die wiederum vergolten wird ... „Im Februar haben die vom Tiscaviertel einem von uns mit einer Granate zugesetzt“, erzählt der fünfzehnjährige Luis. „Wir haben uns dann einen von ihnen gegriffen, habens ihm gegeben und haben ihn liegen lassen. Kurz darauf kam eine ganze Menge von ihnen, und unten an der Brücke war die Hölle los. Mit Schüssen und Granaten und so. Jetzt wollen sie Armando, René und mich umlegen.“

Die Grausamkeit der Auseinandersetzungen mag erschrecken. Für salvadorianische Jugendliche ist sie nicht außergewöhnlich. Wer heute zwanzig ist, ging als Zehnjähriger morgens auf dem Schulweg an Leichen ohne Köpfe und Köpfen ohne Rumpf vorbei. Todesschwadrone hatten ihre Opfer dorthin gelegt, wo sie von möglichst vielen gesehen wurden. Was als Abschreckung gedacht war, hat längst zu Abstumpfung geführt.

Die Gewalt nahm in El Salvador nicht ab, als Regierung und Guerilla nach rund 75.000 Toten einen Friedensvertrag unterzeichneten. Während des Bürgerkriegs starben im Durchschnitt jährlich 6.500 Menschen eines gewaltsamen Todes. In den Nachkriegsjahren stieg diese Zahl auf achttausend an. Mit 140 Tötungsdelikten pro hunderttausend Einwohnern im Jahr ist El Salvador das gewalttätigste Land Lateinamerikas.

Gewalt als gängiges Mittel zur Lösung von Konflikten reproduzieren Maras nicht nur in Kämpfen mit rivalisierenden Banden. Sie prägt auch das Innenleben der Gruppe. Schon der Initiationsritus ist pure Gewalt: Wer Mitglied werden will, muss sich von allen anderen verprügeln lassen. Mädchen können dem Prügelritual entgehen, wenn sie sich von allen männlichen Mitgliedern beschlafen lassen. Auch im alltäglichen Leben aus Rumhängen, Betteln und Klauen herrscht ein strenges Regiment. „Wenn dir der Chef sagt, klau mir zwei Halsketten, dann holst du sie, weil du weißt: Wenn du es nicht tust, kriegst du eins auf die Nase“, sagt die zwanzigjährige Susana.

Regelverstösse werden an vorher festgelegten Abrechnungstagen bestraft. Betteln und Klauen in der eigenen Zone etwa wird mit Prügeleinheiten abgegolten. Wer mit einem Mitglied einer rivalisierenden Bande gesehen wird, der bekommt „grünes Licht“: Einer aus der eigenen Mara wird damit beauftragt, den „Abtrünnigen“ zu töten.

Jedes Maramitglied weiß, was ihm droht, und die meisten empfinden dies als dauerhaften Druck. „Man könnte sagen, in einer Mara fühlst du dich wohl“, sagt der neunzehnjährige Ricardo. „Das ist dummes Geschwätz. Dein bester Freund kann dich umlegen.“ Letztlich wollen die meisten wieder heraus. Ihre Jahre auf der Straße nennen sie ein „beschleunigtes“, ein „verrücktes Leben“, und sie träumen davon, wieder „ruhiger zu werden“.

Nach einer Studie der Zentralamerikanischen Universität wollen 85 Prozent der Maramitglieder zurück in die Gesellschaft. „Gleichzeitig haben sie Angst, dass sie dann keinerlei Unterstützung mehr finden.“ Große Erwartungen an die Zukunft haben sie nicht: irgendeine Arbeit, ein Heim, eine Familie. „Ich würde gerne irgendetwas tun, um das Nötige zum Leben zu verdienen“, sagt der neunzehnjährige Jorge. „Das muss nichts Großes sein. Was Normales halt.“

Den Mehrfachmörder Gustavo Adolfo Morales alias „El Directo“ erwarten zunächst einmal sieben Jahre Haft. Bei seiner Entlassung wird er 24 Jahre alt sein. So lange wollte er nicht warten. Nach zwei Wochen brach er zusammen mit acht Mitgefangenen aus. Sie hatten aus den Drähten eines Bettgestells Stichwaffen gebastelt und einen Wärter als Geisel genommen.

Die Flucht dauerte nicht lange, „El Directo“ war gerade drei Tage auf freiem Fuß. In dieser Zeit hat er in San Miguel mitten in der Stadt zwei Busse überfallen, um an Geld zu kommen. Die Polizei fand ihn in einer Kirche.

Einen Monat später gab ein evangelikaler Sektenprediger bekannt, Gustavo habe in der Haft ein Bekehrungserlebnis gehabt und sich seiner Glaubensgemeinschaft angeschlossen.

Toni Keppeler, 43, lebt als Journalist in Mejicanos, San Salvador. Er berichtet unter anderem für die taz seit drei Jahren aus Mittelamerika. Yvonne M. Berardi, 38, lebt seit 1994 als freie Fotojournalistin und Fotografiedozentin in El Salvador