Eine Tragödie ohne Schurken

■  Madagaskar verödet. Nicht durch skrupellosen Raubbau an der Natur, sondern durch Traditionsverbundenheit. Ökologisch sinnvoll betriebene Landwirtschaft verträgt sich nicht mit dem altehrwürdigen Gesetz der Vorfahren

Allein in den letzten 30 Jahren hat die rote Insel etwa die Hälfte ihrer Wälder für immer verloren

Mit Pauken und Trompeten zieht die Truppe in den Schulhof. Nackte, rissige Füße wirbeln rötlichen Staub auf. Ein alter Mann entlockt seiner abgegriffenen Geige schrille Töne. Rhythmisch klatschend formieren sich die Musikanten, wenden sich dem erwartungsvoll staunenden Publikum zu. Erst nach einer Weile nimmt das klangliche Tohuwabohu Struktur an, bilden sich Harmonien und Melodien heraus.

Einige hundert Bewohner des madagassischen Dorfes Sakay haben sich hier am frühen Vormittag versammelt. Eine Hira Gasy Gruppe – fahrende Musikanten – gibt sich die Ehre. Stundenlang unterhalten die Künstler die Anwesenden mit Ansprachen, Gesängen und akrobatischen Einlagen. Mit Anekdoten und erhobenem Zeigefinger appellieren sie an die Werte und Traditionen der madagassischen Gesellschaft.

Madagaskar ist in seinen Traditionen fest verwurzelt. Von den Ahnen ererbte, Fady genannte Gebote und Verbote beeinflussen den Alltag bis ins letzte Detail. Durch Ausschütten der ersten Tropfen einer neu geöffneten Flasche auf den Boden, durch die Durchführung der ruinös teuren Totenumbettungsfeiern, aber auch durch Beachtung der Regeln für den Umgang mit der Natur erhofft man sich, Leid von der Familie abzuwenden.

Das Tabu, einen heiligen Baum abzuschlagen, kann einen ganzen Wald vor der Zerstörung retten. Die von den Ahnen ererbten Methoden der Landnutzung dagegen sind hauptverantwortlich für die landesweite Waldzerstörung und die daraus resultierende Erosion. Von ihren indonesischen Vorfahren haben die Reisbauern die Brandrodung übernommen, der Jahr für Jahr tausende Hektar Naturland zum Opfer fallen. Zurück bleiben schutzlos den Wirbelstürmen und Regenfällen ausgesetzte Böden, deren fruchtbare Schicht verloren geht. Allein in den letzten 30 Jahren hat die rote Insel etwa die Hälfte ihrer Wälder für immer verloren.

Madagaskar, ehemals das gelobte Land für Naturliebhaber, rast unaufhaltsam in die ökologische und soziale Katastrophe. Im täglichen Überlebenskampf, verbunden mit starren Traditionen, löst sich das Naturerbe des Landes buchstäblich in Luft auf.

Die madagassische Regierung und diverse Naturschutzorganisationen kennen das Problem und haben im gesamten Land dutzende Schutzgebiete eingerichtet. Mit dem Taxi drei Stunden östlich von Antananarivo liegt das Analamazoatra-Reservat. Es ist berühmt für seine Lemuren genannten Halbaffen. Obgleich das Schutzgebiet kaum mehr als 800 Hektar umfasst, bietet es 62 Indrifamilien und anderen Lemurenarten ein Zuhause.

Nerima, Mitbegründer der lokalen Führervereinigung, lebt von den Touristen. „Es reicht nicht aus, einen Zaun um das Reservat zu ziehen und den Schlüssel wegzuwerfen. Es muss uns ernähren.“ Die Touristen sind für die Anwohner und den Wald gleichermaßen wichtig. Erst müssen hungrige Mäuler gestopft werden, dann lohnt es sich, über Naturschutz nachzudenken. Nerima führt uns auf schmalen Pfaden durch den Urwald, zu den Bäumen, auf denen in den frühen Morgenstunden die berühmten puschelohrigen Indris anzutreffen sind. Sie sind die größten noch lebenden Halbaffen Madagaskars.

Schon aus großer Entfernung hallen ihre traurig anmutenden, langezogenen Rufe durch den Wald zu uns herüber. Dass sie noch nicht das Schicksal ihrer bereits gnadenlos ausgerotteten größeren Verwandten teilen, liegt unter anderem daran, dass Tabus die Jagd der Tiere verbieten. Doch Fadys und Naturschutzgebiete allein können den Fortbestand dieser Tiere nicht garantieren. Eine Seuche, ein Waldbrand kann ausreichen, ihren Ruf für immer verstummen zu lassen.

Madagaskar hat kaum noch große ungestörte Urwälder, die solche Katastrophen halbwegs unbeschadet verkraften können. Ausnahme ist die Masoala-Halbinsel. Sie beherbergt den größten verbliebenen Tiefland-Regenwald des Landes. Von den Gipfeln der Berge zieht sich bis hinunter zur Küste ein grüner dampfender Teppich aus Blättern. Eines der wenigen von Wissenschaftlern Hotspot oder Megadiversitätsgebiet genanntes Stück Erde. Es ist ein Wald der Superlative.

Hotspots bedecken gerade einmal 1,5 Prozent der Landfläche der Erde, beherbergen aber mehr als die Hälfte aller bekannten Tier- und Pflanzenarten! Da wachsen Blätter so groß wie ein Regenschirm, Gräser ragen zehn, fünfzehn Meter in den grauen Himmel, fingerdicke Tausendfüßler kreuzen die Wege, Lemuren krachen durch das Geäst, und im Unterholz lauern urzeitlich anmutende Chamäleons auf Beute.

Der Naturschützer Matthew Hatchwell wohnt in einer alten Vanille-Lagerhalle. Matthew ist Projektkoordinator für den erst kürzlich eingerichteten Nationalpark. Er weiß, seine Bemühungen haben nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn es gelingt, den Anwohnern einen gesicherten Lebensunterhalt zu garantieren. Die „Zaun rum und Schlüssel weg“-Strategie ist hier nicht anwendbar, jedenfalls nicht ohne sinnvolle Kompromisse.

Das kleine Dorf Ambanizana beispielsweise ist von einer großen bewaldeten Pufferzone umgeben, in der die Dorfbewohner noch immer auf den von ihnen geschaffenen Rodungen Ackerbau betreiben und sogar Bäume fällen dürfen. In den Kernzonen dagegen soll tatsächlich die „Zaun rum und Schlüssel weg“-Strategie regieren. Dazu müssen es die madagassischen Berater schaffen, Verständnis für die ökologischen Konsequenzen des Handelns zu wecken.

Zurück ins Hochland. Sieben Stunden Tanz und Musik unter der gleißenden Äquatorsonne sind vorüber und annähernd ebenso viele Stunden Rückfahrt ins ferne Antananarivo liegen vor uns. Altersschwach holpert der klappernde Tourneebus der Hira Gasy Gruppe in die Abenddämmerung hinein. Die Musiker haben es sich bequem gemacht. Rechts und links der Piste erstrecken sich kahle, von Erosionsrinnen zerfressene Hügel. Nur noch anspruchslose Gräser gedeihen auf diesen ausgewaschenen Böden. Hier und da huschen kleinere Baumansammlungen an uns vorbei, große zusammenhängende Wälder gibt es im Hochland kaum noch.

Sie sind Opfer der Ahnen, des Feuers und einer stetig wachsenden Bevölkerung geworden. Bernd Leideritz