Laue Kritik an mörderischem Angriff auf Grosny

■  Nach den Raketen auf Grosny mit mindestens 130 Toten fordert die EU Russland zu sofortigen Verhandlungen mit Tschetschenien auf

Grosny (rtr/AFP/taz) – Zumindest zu einem Friedensappell an Russland konnte sich die Europäische Union gestern durchringen, zu mehr reichte es jedoch nicht. Moskau müsse „unverzüglich mit den Repräsentanten der Tschetschenen Verhandlungen aufnehmen, um zu einer dauerhaften Lösung zu kommen“, sagte Finnlands Ministerpräsident Paavo Lipponen beim EU-Russland-Gipfel in Helsinki. „Wir werden keine militärische Lösung hinnehmen.“ Auch der außenpolitische Repräsentant der EU, Javier Solana, sprach sich für eine politische Lösung aus. Am Donnerstag waren bei einem Raketenangriff auf einen Markt und eine Entbindungsklinik in Grosny mindestens 130 Menschen getötet und mehrere hundert verletzt worden.

Russlands Premier Wladimir Putin gab den Unschuldsengel. Russische Streitkräfte hätten mit der Explosion vom Vorabend nichts zu tun, sagte Putin in Helsinki. Bei dem Markt handele es sich um einen Umschlagplatz für Waffen, und die Explosion sei Folge eines Bandenkrieges. Gleichzeitig bestätigte Putin Berichte, wonach russische Spezialeinheiten in der Umgebung Grosnys im Einsatz seien. Überdies versicherte er, den Konflikt in Tschetschenien nicht mit militärischen Mitteln zu lösen.

Zuvor hatte ein russischer Armeesprecher erklärt, es habe einen Sondereinsatz gegen Waffenhändler gegeben. Nach Angaben des Verteidigungsministeriums wurden dabei weder Luftwaffe noch Artillerie eingesetzt. Auf die Frage nach zivilen Opfern der Militäroperation sagte der Sprecher des Verteidigungsministeriums, Alexander Weklitsch: „Zu dieser dunklen Tageszeit gehen Zivilisten nicht mehr auf einen Markt, wo Waffen an Banditen und Terroristen verkauft werden.“

Korrespondenten boten sich nach der Explosion in Grosny Bilder des Grauens. Auf dem völlig zerstörten Marktplatz habe er am Freitag zwei Einschlagslöcher von Geschossen gesehen, berichtete der ARD-Hörfunkkorrespondent Jürgen Döschner. Er hatte sich zum Zeitpunkt der Explosion weniger als einen Kilometer vom Marktplatz entfernt aufgehalten. Es habe keine Anzeichen gegeben, dass es sich um einen Waffenbasar handelte. „Dort gab es Reste von Brot und Gemüse“, sagte Döschner. Noch am Donnerstag fuhr er in ein Krankenhaus: „Dort spielen sich grausame Szenen ab“, sagte er. Auf den Fluren hätten blutverschmierte Leichen gelegen. Es gebe nur wenig Personal und zu wenig Medikamente.

Unterdessen äußerte sich Bundesaußenminister Joschka Fischer in einem Schreiben an seinen Amtskollegen Iwanow bestürzt über die Raketenangriffe. Dieser massive und in seinen Folgen unkontrollierbare Gewalteinsatz müsse sofort eingestellt werden, forderte er nach Angaben des Auswärtigen Amtes. Massive Bombardierungen und groß angelegte Bodenoperationen seien keine geeigneten Mittel zur Terrorismusbekämpfung. Die Grünen im Europaparlament forderten für die Dauer des Tschetschenienkrieges ein Einfrieren sämtlicher EU-Wirtschaftshilfen für Russland. bo

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