Es war schön hier, aber anders als im Film“

taz-Serie „Zehn Jahre Mauerfall“: Die Blümels lebten 27 Jahre im „Schutz der Mauer“ nur einen Steinwurf von Westberlin entfernt am kürzeren Ende der Sonnenallee. Den Erfolgsfilm über ihre Straße, der derzeit in den Kinos läuft, empfinden sie als Satire    ■ Aus der Sonnenallee Julia Naumann

Im Abspann hält Film-Held Micha eine Lobesrede auf das kürzere Ende der Sonnenallee: „Hier war ich jung und glücklich, denn ich war verliebt.“ Für den 16-Jährigen war das Leben an der Mauer ziemlich aufregend: Es gab die wunderschöne Miriam, die Stones, Asthmamittel als Ersatzdroge, Schuldiscos.

Dass das Leben in der Sonnenallee vor der Wende zwar nicht unbedingt aufregend, aber „eigentlich richtig schön war“, findet auch Hannelore Blümel. Die 59-Jährige lebt mit ihrem Mann Karl-Heinz seit 37 Jahren in der realen Sonnenallee im Ostberliner Stadtbezirk Treptow. Wenn sie heute aus dem Wohnzimmerfenster des gelb verputzen Mehrfamilienhauses schaut, auf den Rasenstreifen, der nur 20 Meter von der Haustür der Blümels entfernt liegt und auf dem früher die Mauer langlief, dann wird sie manchmal sogar ein bisschen wehmütig. „So nahe der Mauer lebte es sich ganz gut. Es war so ruhig hier“, erinnert sich die Frau mit den lustigen Pausbäckchen.

Auf den Film „Sonnenallee“ von Leander Haußmann und Thomas Brussig waren die Blümels sehr neugierig. Wollten ihn unbedingt sehen, obwohl sie sonst nur selten ins Kino gehen. Während des Films haben Hannelore und Karl-Heinz herzhaft und ziemlich entspannt gelacht: über die geschmuggelten Nylons des West-Onkels, über Katharina Thalbach, wie sie flüchten will und es dann doch nicht tut, und den beknackten Abschnittsbevollmächtigten alias Detlev Buck. Für die Blümels ist der Film „reine Satire“, in dem das meiste nicht stimme, „weil es ganz anders gewesen ist“, wie Karl-Heinz sofort danach sachlich und ohne Emotionen feststellt. Mit der Sonnenallee, mit dem wirklichen Leben damals, habe der Film nur wenig zu tun.

Als Hannelore und Karl-Heinz Blümel 1961 geheiratet hatten, wollten sie ganz schnell raus aus der kargen Altbauwohnung der Eltern im Arbeiterbezirk Friedrichshain. Es gab kein Bad und keine Heizung. Die Frischverliebten hausten in einem Zimmer zur Untermiete. Eine Wohnung zu bekommen, war jedoch schwierig. Doch die beiden hatten Glück: Karl-Heinz, damals junger Facharbeiter für Fotochemie, trat in eine Wohnungsbaugenossenschaft ein, und 1962 war es bereits so weit:

Das Pärchen musste eine Eigenleistung von 2.100 Mark zahlen – und durfte in die Sonnenallee ziehen. „Es wurde uns auch eine Wohnung in einem anderen Bezirk angeboten, aber die war noch nicht fertig“, erinnert sich Hannelore Blümel lapidar. „Ich wollte schnell eine Wohnung, ein Bad, ein bisschen Luxus“, sagt sie und zupft am Sofa herum.

Die Mauer, die zum Zeitpunkt des Einzuges an diesem Abschnitt der Sonnenallee ein Zaun war, der erst später mit Metallplatten verkleidet wurde, störte sie nicht. „Freudestrahlend“ zog das Paar in die 2,5-Zimmer-Wohnung : eine beige Einbauküche, ein gefliestes Badezimmer, sogar ein winziges Kinderzimmer. „Wir waren sehr glücklich“, erinnert sich Karl-Heinz und guckt zufrieden.

Mit den anderen Bewohnern hatten die Blümels anfänglich kaum Kontakt. Dass in der Sonnenallee wegen der nahen Grenze nur „150-Prozentige“ lebten, also Parteimitglieder oder Mitarbeiter der Staatssicherheit, halten die Blümels für ein Vorurteil und West-Klischee. „Es war hier so wie in anderen Stadteilen auch“, sagt Karl-Heinz. Man habe, um die Wohnung zu bekommen, nur ein gutes polizeiliches Führungszeugnis vorzeigen müssen. In der SED habe man nicht unbedingt sein müssen. Karl-Heinz war Genosse, Hannelore nicht.

Doch die Ernüchterung kam schnell. Ende 1962 durfte man das Sperrgebiet Sonnenallee, das immer weiter befestigt wurde, nur noch mit Passierschein betreten. „Es war nicht so, dass man ständig kontrolliert wurde“, erzählt Karl-Heinz. „Aber man sollte seinen Ausweis schon dabeihaben.“ Kompliziert wurde das vor allen Dingen für Freunde, die das junge Paar besuchen wollten. Sie mussten jedes Mal zur Polizei, um sich den begehrten Schein zu besorgen. Das war kompliziert und dauerte bis zu zwei Wochen. Einige Freundschaften gingen deshalb zu Bruch. „Wir waren sehr isoliert“, räumt Hannelore Blümel ein.

Von ihrem Wohnzimmerfenster aus konnte Hannelore Blümel den Ausbau des antifaschistischen Schutzwalls genauestens beobachten – zum Beispiel, wie später Türchen in die Mauer eingebaut wurden, die die Westbesucher ausspuckten. Die Touristen, erzählt Karl-Heinz, benahmen sich jedoch immer „ordentlich und gesittet“, verarschten nicht wie im Film die Zonis vom Aussichtsturm.

Beklemmend wurde es, als Hannelore 1963 schwanger wurde. Denn während der Schwangerschaft sollte ihr Mann eingezogen werden, der Nationalen Volksarmee dienen. „Dann wäre meine Frau ganz allein gewesen“, erinnert sich Karl-Heinz und schluckt. Kein Telefon, keine Freundin, die mal schnell hätte vorbei kommen können. Blümel rannte von einer Dienststelle zur anderen. Vergeblich. Auf Knien habe er gebettelt. „Ich wollte ja dienen, aber erst ein halbes Jahr später.“ Als er schließlich beim Leiter des Wehrkreiskommandos gelandet war, zeigte einer der Uniformierten Erbarmen. Blümel wurde zurückgestellt.

1965 wurden die Passierscheine abgeschafft, das Leben normalisierte sich. Hannelore Blümel, die als Bankangestellte und später als Sachbearbeiterin arbeitete, empfand es fast als idyllisch. „Ich konnte den Kinderwagen im Schatten der Mauer abstellen und niemand hat sich dafür interessiert“, erinnert sie sich. Später konnten die beiden Kinder Thomas und Daniela unbehelligt draußen spielen, die Mauer ließ sie nicht weit kommen. Den Grenzpolizisten sagten die Blümels artig Guten Tag“, Daniela wusste sogar deren Vornamen, und die Grenzer grüßten freundlich zurück. An Weihnachten freute sich Hannelore über den schönen, bunt geschmückten Baum, der vor dem Schlagbaum stand. „Vor der Wende war es ruhig hier, wir haben in Frieden gelebt“, fasst Hannelore Blümel ihr Leben zusammen. Die Mauer, sagt sie, sei irgendwann in „Fleisch und Blut“ übergegangen.

Die Blümels hielten sich natürlich an die offiziellen, aber auch an die inoffiziellen Regeln: „Ich durfte mein Staubtuch nicht aus dem Fenster ausschütteln“, erzählt Hannelore. Das hätte ein verstecktes Zeichen für Verwandte im Westen sein können. Einmal hörten die Blümels nachts einen Schuss, „da wollte wohl jemand fliehen“. Doch um wen es sich gehandelt hatte, ob jemand verletzt wurde – das war kein Gesprächsthema.

Nur ein einziges Mal kamen die Blümels selbst in Bedrängnis. Da machte Karl-Heinz nach einem Betriebsvergnügen nachts noch einen Spaziergang um den Block, weil er vom Zigarettenqualm Kopfschmerzen hatte. Prompt wurde er von der patroullierenden Mauerpolizei aufgegriffen und nach Hause gebracht. „Da stand er dann mit den Polizisten vor unserer Tür“, errinnert sich Hannelore. Zitternd. „Da hatte ich schon ein bisschen Angst.“

Das Leben am kürzeren Ende der Sonnenallee floss dahin und wurde erst wieder aufregend, als die Mauer fiel. Am Morgen des 10. November beobachtete Hannelore von ihrem Wohnzimmer, wie die Menschenmassen durch das kleine Türchen strömten. Sie selbst traute sich nicht runter. „Wir haben uns durch die Mauer so beschützt gefühlt“, sagt Hannelore nachdenklich. „Es war eben fast wie im Paradies.“ Und das klingt dann schon doch ein bisschen pathetisch.

Beeindruckt waren die Blümels, als sie kurz nach dem Mauerfall mit ihrem Trabi nach Westdeutschland fuhren. „Der Grenzübergang Helmstedt war gigantisch und hat gezeigt, was die DDR wirklich für ein System war“, meint Karl-Heinz und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. „Dagegen war der Grenzübergang Sonnenallee Peanuts.“

Heute ist von der geteilten Straße nichts mehr zu spüren, der Verkehr fließt von einem Teil in den anderen und zurück. Aus der Wechselstube ist eine Bierbar geworden. Die Mauer ist ein Rasenstreifen. Hannelore Blümel hat Angst vor Einbrüchen. Bei zwei Nachbarn ist bereits das Fenster aufgeknackt worden.

Mit dem nahen Neukölln, auf der anderen Seite der ehemaligen Grenze liegt ein großes Neubaugebiet, hat das Ehepaar wenig zu tun. Dort sei es „dreckig und schäbig“. Im Westen gehen die Blümels jedoch einkaufen, da gibt es „Penny“ und „Aldi“, und das ist billiger als die im Osten domierende Supermarktkette „Kaiser's“. Die Blümels, die ihre Wohnung nach der Wende mit einer neuen braunen Schrankgarnitur und zartweißen Strukturtapeten aufgepeppt haben, müssen ein bisschen aufs Geld achten. Auch das Haus ist mittlerweilig aufwändig renoviert worden, die Miete für die 55-Quadratmeter-Wohnung kostet jetzt 633 Mark. Beide haben ihre Jobs verloren und hangeln sich jetzt von einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur anderen.

Doch das Paar will in der Sonnenallee bleiben. Eine Lobesrede wie Micha wollen sie aber nicht auf die Straße halten. „Es war damals ein schöner Lebensabschnitt“, sagt Karl-Heinz pragmatisch. „Nicht mehr und nicht weniger.“