Tief ins Reich

Wird die neue Dokumentationsstelle zum Nationalsozialismus die Hitler-Pilger vom Obersalzberg fernhalten?  ■   Von Ira Mazzoni

Die Wälder sind herbstlich bunt und oben auf den Berggipfeln liegt der erste Schnee. Die bayerische Idylle ist trügerisch. Der Ort ist ideologisch hochgradig kontaminiert. Der Obersalzberg wurde von den Nazis nachhaltig ruiniert. Den Höhenkurort mit alten Höfen und schmucken Villen betuchter Sommerfrischler machte Martin Bormann zum „Führersperrgebiet“. In der alpinen Postkartenlandschaft entstand ein zweites Machtzentrum mit Residenzen der Führungsriege und einer SS-Kaserne. Heinrich Hoffmann inszenierte hier „Hitler abseits vom Alltag“.

Wie geht man mit einem so schwierigen Erbe um? Nach dem Krieg gab es zwei Anworten: Die brisanten Ruinen wurden gesprengt und entsorgt. Den Platterhof hingegen, eine Bettenburg für „verdiente Volksgenossen“, bauten die Amerikaner wieder auf, um ihn als „Armed Forces Recreation Centre“ zu nutzen. Hinter dem Gutshof entstand eine Golfanlage.

Nachdem die Amerikaner 1996 abgezogen sind, hat der Bayerische Freistaat entgültig die Verantwortung für den Berg übernommen. Die Frage nach dem Umgang mit dem Erbe stellt sich neu, zumal selbst spärliche Mauerreste noch immer Pilger anziehen. Mit Aufklärungsarbeit und touristischer Neuerschließung versucht man jetzt, Zukunft zu planen.

„Wir haben das bessere Angebot“, davon ist Bernd Schreiber, Pressesprecher des Bayerischen Finanzministeriums, das die Liegenschaft verwaltet, überzeugt. In Bayern gab es bisher keine „Topographie des Terrors“, weder in München noch in Nürnberg. Nun wurde am Obersalzberg die erste Dokumentationsstelle eröffnet (siehe taz, 22. 10.). Eine „Gedenkstätte“ verbietet sich im Ferienparadies der Täter. Gedenken heißt auch Identifikation. In Buchenwald oder Dachau dient sie der Trauerarbeit – am Obersalzberg ist Konfrontation gefragt. „Andenkenläden“ gibt es genug. Die braune Vergangenheit wird seit den 50er-Jahren vermarktet.

Erst kamen die Plünderer, dann Wallfahrer und Voyeure. Der Gasthof „Zum Türken“, der einzige Restitutionsfall am Obersalzberg, wurde 1950 wieder eröffnet und warb mit der Nähe zu Hitlers Berghof. Seit 1954 können Interessierte auch den „Bunker des Führers“ besichtigen. 300.000 Bergtouristen besuchen jährlich das monumentale Kehlsteinhaus auf 1.863 m Höhe. Die meisten, weil der Blick von dort oben einmalig ist. Wie viel „Pilger“ dabei sind, blieb bislang unerforscht. Am Hintereck gibt es Souvenirläden wie an jedem Ausflugsort. Das bunte Modell im Schaukasten lokalisiert Hitlers Berghof und die umliegenden Häuser von Göring, Bormann und Speer aufs Genaueste. Hochglanzbroschüren reproduzieren die alten Propagandafotos. Bisher fast die einzigen „Informationsquellen“ zur Ortsgeschichte.

Wie sieht nun das „bessere“, das historisch korrekte Angebot aus? Hübsch unauffällig, dezent modern, lichtdurchflutet sachlich. Schon die Hinweisschilder auf die Dokumentationsstelle könnte man glatt übersehen. Der Zufahrtsweg wird von den steinernen Massen des Platterhofs, alias „General Walker Hotel“, belagert. Auch deswegen soll der Bau weg. Eine unbefangene Nachnutzung, wie sie die Amerikaner praktizierten, scheint unmöglich, obwohl in Berlin und München bereits praktiziert. Ein Neuanfang in den alten Gemäuern sei undenkbar – zu zahlreich die „Nostalgieelemente“. Die strammen Arkaden sollen nicht Kulisse für stramme Kameraden werden, kommentiert Dieter Krautzig, Sprecher der mit der Projektentwicklung beauftragten Münchner Firma „Gewerbegrund“, die Entscheidung.

Das zukunftsweisende Resorthotel mit Wellnessbereich wird daher auf unbelastetem Terrain in sonniger Lage errichtet. Auf dem Grund des Platterhofs ist ein Großparkplatz geplant. Dort sollen die Transferbusse zum Kehlsteinhaus starten. So hofft man den Souvenirläden am Hintereck die Kundschaft zu entziehen und die Dokumentationsstelle als erste Informationsquelle in Position zu bringen.

Aber warum hat man sie dann so unauffällig klein gestaltet? So neutral? Warum schmiegt sich das Glashaus so eng und widerstandslos an die ocker getünchten Arkaden vom ehemaligen Gästehaus Göll? Das Fragment eignet sich nicht als Geschichtsdokument, sondern verhübscht die Fassade und das Entree. Auf den ersten Blick mehr „Trattoria Toskana“ als Unterrichtsort.

Die Ausstellung beginnt mit einem Schock: Hitler stürmt mit Standarte und Heiligenschein aus einem Propagandabild auf den Besucher zu. Zwar wird das „Erlöserbild“ durch seitliche Bildstreifen konterkariert, die sowohl die Leichen im KZ Bergen-Belsen als auch die Gefallenen vor Stalingrad zeigen, aber die Montage mag nicht zu überzeugen. Was, wenn genau dieses Bild Hauptattraktion eines speziellen Publikums wird? Ansonsten verzichtet die Ausstellung auf Farbe. Das papierene Dokument spricht. Selbst das topografische Architekturmodell der Gesamtanlage Obersalzberg ist hygienisch weiß, vollkommen entmaterialisiert.

Das Münchner Institut für Zeitgeschichte, verantwortlich für die Dokumentation, nutzt die Architektur für semantische Sinnstiftungen: Oben auf der Galerie die vermeintlich schöne Welt des Obersalzbergs. Da das Regime dort seine zweite Zentrale hatte und seine Verbrechen plante, dokumentieren die Historiker auf der Grundfläche unterhalb der Galerie die ganze Geschichte des Dritten Reiches: Eine schwierige Gratwanderung zwischen Schwerpunkten, der Bezug zum Obersalzberg geht dabei schnell verloren. Erst der Gang in den Bunker macht Historie konkret erlebbar. Kaum einer, der in den Gängen und Hallen nicht schaudert, der nicht fassungslos vor dem 30 Meter in die Tiefe reichenden Aufzugsschacht steht. Die symbolische Umdeutung zum Höllenort ist evident. Aber müssen die Ausstellungsmacher einen Stollen als Hörraum einrichten, in dem Berichte von KZ-Häftlingen zu hören sind? Ist die Zumutung in isolierter Dunkelheit pädagogisch hilfreich oder böser Gruseleffekt?

Man kann dozieren, Wanderwege umleiten, Sperren errichten, neu bauen – es wird nichts nützen. Es wird weiterhin Pilger geben, die Blumen und Kerzen auf dem Grundstück des Berghofs arrangieren. Die nach Mauersteinen suchen oder Runenzeichen an Wände schmieren. Es kann doch kein Zufall sein, dass zwei Tage vor Einweihung der Dokumentationsstelle in Berchtesgaden ein Antiquitätenladen aufmachte, der Devotionalien feilbietet, die in der Ausstellung nicht gezeigt werden.