15-mal den „Gehülfen“ gelesen

Zu Tode gelobter Außenseiter im großstädtischen „Prosastückligeschäft“: Die Robert-Walser-Gesellschaft tagte im Literaturhaus in der Fasanenstraße und sprach über die Berliner Jahre von Robert Walser  ■   Von Detlef Kuhlbrodt

Gesellschaften, die sich der Pflege des Werkes eines Dichters verschrieben haben, sind äußerst sympathisch. Vor allem, wenn sie sich um routiniert zu Tode gelobte Außenseiter wie Robert Walser (1878–1956) kümmern, der in seiner intensivsten Schaffenszeit keine Verleger mehr fand und die letzten 27 Jahre seines Lebens als stiller Irrenanstaltspatient verbrachte. Besonders sinnvoll ist das, weil nur ein Bruchteil seines von Kafka, Benjamin und Lettau hoch geschätzten Werkes zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde.

Um es zu erschließen und dem Klischee des romantischen, zarten, putzig-lebensuntüchtigen Naturburschen zu widersprechen, brauchte es Enthusiasten wie etwa Dr. Jochen Greven, der vor dreißig Jahren damit begann, die kaum leserlichen, mikroskopischen späten Texte aus dem „Bleistiftgebiet“ des unsteten Schweizers zu transkribieren.

Jochen Greven ist der alte und neue Präsident der im November 1996 in Zürich gegründeten Robert-Walser-Gesellschaft, die am vergangenen Wochenende ihre Jahrestagung im Literaturhaus in der Fasanenstraße abhielt. Ziel der Gesellschaft ist es, „die Erforschung und Verbreitung von Robert Walsers Werk zu fördern und ein offenes Forum des Informationsaustauschs unter allen zu sein, die sich für dieses Werk besonders interessieren“. Man gibt halbjährliche „Mitteilungen“ heraus, in denen neue Textfunde veröffentlicht werden und auch sonst alles Walser Betreffende. Zum Beispiel Zeitzeugenberichte von Begegnungen mit dem Dichter oder auch die knapp grazilen „Miszellen“ mit Meldungen etwa über eine Buchhandlung im Ruhrgebiet, die einen Tisch mit Büchern des missratenen Namensvettern bestücken wollte und eine Robert-Walser-Auswahl bekam. „Wir meinen, Pannen dieser Art dürften durchaus öfters vorkommen.“ Martin Walser sagt übrigens gewohnt angeberisch, er hätte den „Gehülfen“ 15-mal gelesen.

Ab und an bekommen die Mitglieder der Gesellschaft auch Jahresgaben – wunderschöne Faksimiledrucke unveröffentlichter Handschreiben des Autors. Außerdem bemüht sich die Gesellschaft um den Erwerb von noch im Privatbesitz befindlichen Manuskripten. Der diesjährige Erwerb diverser „Walseriana“ inklusive der 1906 und 1907 in Berlin geschriebenen Manuskripte der Romane „Geschwister Tanner“ und „Der Gehülfe“ kostete etwa eine Million Mark.

256 Walser-Freunde zahlen als einfaches Mitglied 80 Mark – als „Gönnermitglied“ 1.000 Mark – Jahresbeitrag. Ungefähr siebzig kamen zur Jahresversammlung nach Berlin, wo Walser von 1906 bis 1913 gelebt und neben den zwei Romanen zahlreiche Feuilletons geschrieben hat. Unter ihnen auch zwei ehemalige Spiegel-Sekretärinnen. Ein Spiegel-Redakteur in der Robert-Walser-Gesellschaft wäre dagegen ein Widerspruch in sich. Franz Blei hatte seinen Plan einer Damenzeitschrift namens „Spiegel“ übrigens schnell wieder fallen gelassen.

Solche Veranstaltungen haben etwas Grundanständiges mit Mitgliederversammlung, „gemeinsames Essen (Buffet)“, Berlintour auf Robert und Karl Walsers Spuren und verschiedenen Vorträgen. „Guten Abend! Wenn Sie jetzt alle still sind, können wir ja auch anfangen“: Am Freitagabend sprach Beatrice von Matt, langjährige Literaturchefin der Neuen Zürcher Zeitung, über Robert Walsers Jahre (1906–1913) in Berlin. Problem: „Man weiß ja überhaupt nichts Genaues über seine Berliner Zeit.“ Es gebe da kaum Briefe.

So versuchte sie entlang seiner Veröffentlichungen darüber zu berichten, hob den Impressionismus der kleinen Prosa des Helden der Feder vor, der die „Weltstadt“ mit einer „Riesin“ verglich, ging auf sein Verhältnis zum erfolgreicheren Malerbruder Karl ein (der „taktierende Erfolgsmensch“) und kam vom gescheiterten Schauspieler zum Rollenprosa-Autor im großstädtischen „Prosastückligeschäft“.

Am nächsten Tag sprach Anne Gabrisch, die Walser in der DDR herausgegeben hatte, über das wechselvolle Verhältnis zwischen dem Walser-Entdecker, Literaturförderer, literarischen Dilettanten, Initiator diverser seltsamer Literaturzeitschriften, Franz Blei also, und Robert Walser. Ein toller anderthalbstündiger Vortrag mit tausend Namen und Details. „Ihm war am vergnüglich Liederlichen gelegen“, hieß es irgendwann über Blei, der später seinen früheren Schützling arg vermarktet habe und die Anekdote über den Dichter, der zum Verleger kommt und sich dort als Diener des Dichters ausgab, in tausend Artikeln verbriet. Walser wehrte sich mit graziler Ironie gegen den herablassenden „Zeitschriftenfeldherrn“, der ihn nur als schnörkelnd biedermeierlichen Naturburschen gelten ließ.

Dazwischen klapperte im Hintergrund das Geschirr, und Monika Lemmel erklärte, dass Walser mitnichten das Goethesche Bildungsideal angegriffen habe, dies alles sei ihm „auf zauberhafte Weise Wurst“, entgegnete jemand, ein anderer rauchte plötzlich eine Gitane-Mais (der ausbleibende Protest: ein weiterer Pluspunkt für die Walserianer!), bestand darauf, dass Leibesübungen mitnichten bürgerlich, sondern vielmehr adlig seien. „Ob Sie sie ausüben, weiß ich nicht. Sie brauchen jedenfalls dringend Bewegung.“ Am abschließenden Samstagabend lasen drei zeitgenössische Autoren ihre Lieblingstexte von Walser vor und begründeten, wieso sie Walser so toll finden.

Die Bachmannpreisträgerin Sibylle Lewitscharoff, die auch der Gesellschaft angehört, las Walsers „Brief eines Vaters an seinen Sohn“ als Antwort auf Kafkas „Brief an den Vater“, Peter O. Chotjewitz unterbrach seine Lesung ständig mit selbstgefälligen Anekdoten und allerlei Fisimatenten, und der supergut vorbereitete Matthias Zschokke trug u. a. ein wunderschönes spätes Fragment des Dichters vor, in dem jeder Satz vom vorherigen grandios abschweifte: „Inhaltsreiche Geschichte, wohin führst du mich?“

Besonders gut gefällt mir, wie Walser den Räuber im gleichnamigen Roman charakterisiert als einen, der zu denen gehörte, „die nicht im Handumdrehen mit einer entsetzeneinflößenden Geschwindigkeit mit ihrem Innen und Außenleben fertig werden, als wären Menschen bloße Semmeln, die man in fünf Minuten verkauft, damit sie verbraucht werden“.