Schlamm der Geschichte

Peter Konwitschny inszeniert an der Staatsoper den Freischütz – ein Gespräch über Gott, Geld und den Teufel als Kapitalisten  ■ Von Eberhard Spohd

Am kommenden Sonntag feiert die Staatsoper die Premiere von Carl Maria von Webers Freischütz. Nur wenige Opern werden so häufig aufgeführt wie dieses Singspiel, über das Hans Pfitzner Anfang des Jahrhunderts urteilte, dass der „deutsche Wald darin die Hauptrolle“ spiele. Der Försterlehrling Max muss einen Probeschuss tun, um neuer Oberförster werden und seine Geliebte Agathe heiraten zu können. Sein Kollege Kaspar überredet ihn, in der Wolfsschlucht Freikugeln zu gießen, die immer treffen. Kaspar steht – klar – mit dem Teufel in der Figur des Samiel im Bunde, der die siebte Kugel in ein Ziel seiner Wahl lenken darf. Im großen Showdown beschützt jedoch ein Eremit Agathe, der der Treffer zugedacht war, und Max erschießt Kaspar. Max wird für ein Jahr auf die Probe gestellt, bevor er Agathe heiraten darf. Die taz interviewte den Regisseur Peter Konwitschny.

taz: Welche Rolle spielt bei Ihnen der Wald? Taucht er in ihrer Inszenierung überhaupt noch auf?

Peter Konwitschny: Na sicher, aber nicht wie er sonst aussieht. Der Wald ist ein schwarzer Raum, in dem alle Bilder bis zur Wolfsschluchtszene spielen. Es ist egal ob man im Wald trinkt, spaziert oder ob man in seiner Wohnung ist: Das kann alles ganz schnell Wolfsschlucht werden.

Was ist das Entscheidende an der Wolfsschlucht?

Das ist der Ort, wo wir alles Unlösbare und alles was uns bedrückt und wir offenbar nicht zu klären in der Lage sind, abkippen.

Was hat das mit dem Unheimlichen zu tun, das auch der Musik in dieser Szene innewohnt?

Es ist unheimlich, dass wir unsere Probleme nicht lösen. Die begleiten uns ja dadurch immer weiter. Beim Kugelgießen kommt das dann so richtig von unten hoch, der Schlamm der Geschichte. Die Leichen aus dem Keller treten zutage.

Der letzte Akt spielt dann nicht mehr in der Wolfsschlucht?

Nein, die Wolfsschlucht ist laut Stück dann vorbei. In dem wir sie realisieren, ist sie auch wie im psychotherapeutischen Sinn gefasst. Dafür gibt es eine neue Wendung: Der Eremit taucht als Deus ex machina auf.

In welcher Funktion?

Das ist ein Paradigmenwechsel vom Probeschuss zum Probejahr. Bei einem Probeschuss muss man in einem Moment seine Leistung bringen. Wenn ich nervös bin, dann treffe ich nicht. Wenn wir wegen dieses Leistungsdrucks eine Therapie machen müssen, dann heißt es: Wir müssen demokratischer werden. Wir brauchen keinen Probeschuss mehr, sondern ein Probejahr. Das scheint eine schöne Lösung zu sein.

Ist es das nicht auch?

Nein. Max muss ein Jahr lang still halten, muss sich fügen und anpassen. Da wird er langsam intrigieren und Grüppchen und Parteien bilden. Ich denke manchmal, ein Probeschuss wäre besser, dann wäre alles in einem Moment vorbei.

Passt sich Max nicht ohnehin schon vorher an, im Gegensatz zu Kaspar? Er steht in der Oper zwar nominell in der Rangordnung unter Kaspar, verhält sich aber so, dass er die Erbförsterei und Agathe bekommt.

Das liegt doch ein bisschen an ihr, die dem Vater in den Ohren liegt und sagt, dass sie Max lieber mag. Der Kaspar dagegen ist sozusagen Ausländer. Der wird kollektiv abgelehnt, denn er lässt sich mit etwas ein, wovon Max brav Abstand hält.

Was ist das?

Es ist die neue Organisationsweise der Gesellschaft. Zu Zeiten der Uraufführung 1821 kam der Frühkapitalismus auf, um diesen marxistischen Begriff zu verwenden. Wir selbst werden dadurch zur Ware. Wir verkaufen uns per Vertrag. Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus bedeutet unter anderem, dass Gott stirbt, und an dessen Stelle tritt Geld.

Max fragt ja auch an einer Stelle „Lebt kein Gott?“

Das lag damals in der Luft. Deshalb ist das Stück ja auch gut. Max benennt das Neue. Und es gibt Menschen wie Kaspar, die sich mit dem Neuen schneller anfreunden. Die auch ihren Teil haben wollen in diesem kurzen Leben. Eben eine Freikugel, ein bestimmtes Privileg. Damit verschreibt er sich und begibt sich in eine Abhängigkeit, die er nicht durchschaut.

Wer behält dann letztlich die Kontrolle über diese Neuerungen?

Da sind ganz andere Mächte im Spiel. Das ist das Dunkle und Teuflische im Freischütz. Das sind keine Gruselgeschichten, sondern das ist ganz knallhart eine traumsymbolische Umsetzung dieser realen, im Leben begründeten Ängste aufgrund der nicht mehr durchschaubaren Verfahren.

Dann ist Samiel der große Kapitalist im Hintergrund, dem Kaspar etwas verkauft und der seine Gegenleistung erbringt.

Das ist auch in einer Textstelle fassbar. Da sagt Kaspar: Heute ist meine Zeit zu Ende, und ich bin jetzt dein. Aber ich bringe dir per Pacht einen anderen statt dessen und erhalte wieder ein Jahr Aufschub. Hier trägt Samiel die Züge eines Kapitalisten. An anderen Stellen ist er die personifizierte Angst vor dem Undurchschaubaren. An wieder anderen ist er der personifizierte Aberglauben. Samiel ist eine sehr reiche und schillernde Bühnenfigur.

Premiere: So, 31. Oktober, 18 Uhr, Staatsoper