■ Nach einem Jahr rot-grüner Regierung herrscht blanke Ernüchterung. SPD und Grünen laufen die Stammwähler weg
: Dialektik der Abklärung

Die Grünen haben sich in einen ganz normalen staatstragenden Verein verwandelt

Im Osten, so heißt es immer wieder, seien die Bindungen an eine Partei oder ein politisches Milieu schwächer als im Westen. Dieser typische Parteienforschersatz aber hat sich seit den letzten Wahlen ziemlich erledigt. Spätestens seit den letzten Wahlen in Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Brandenburg, Thüringen und Berlin ist die 1990 so dilettantisch zusammengestückelte neue Bundesrepublik eingeostet.

Jene Westdeutschen, die früher „Beim roten Hannes“ zusammen kumpelten und seit Generationen Sozis wählten, jene, die sich immer am Ökomarktstand bei den neuesten Bioweinen trafen und schon vor zwanzig Jahren geschworen hatten, nie jemand anderen zu wählen als die Grünen, laufen ihren Stammparteien inzwischen davon. Hysterisch schreiend und in Scharen. Die traditionelle Treue zu Rot und Grün löst sich auf. Was bleibt, ist politische Bindungslosigkeit, also Verostung.

In Rekordzeit haben es Rot und Grün geschafft, ihre wichtigsten Themen strategisch zu verfehlen, ja sogar gänzlich zu vergessen, dass es sie überhaupt gibt: den Abbau der Massenerwerbslosigkeit und den Ausstieg aus der Atomenergie. Hätten sie hier wenigstens ein bisschen vorzuzeigen, ein wenig mehr als Arbeitsbeschaffung einzig für Bernhard Jagodas ErwerbslosenverwalterInnen und Jürgen Trittins AtomgutachterInnen, dann hätte die vergraulte Stammkundschaft ihnen womöglich schon verziehen. Selbst über Kosovo-Krieg, Sparpaket, feministische Ignoranzen und Asylschweinereien hätten sie versuchsweise großzügig hinweggesehen. So aber bleibt ihnen nur die Hoffnung, dass in Berlin wenigstens eine Sprache verstanden wird: die der Wahl-Verweigerung.

Ex oriente lux, hieß es früher, nun aber kommt aus dem Osten nicht mehr das strahlende Licht der Aufklärung, sondern das Zwielicht der Abklärung, und es erfasst langsam die gesamte Republik. Abklärung heißt in Ostdeutschland, sich in strikter Distanz zu halten von denen, die „so viel versprechen und nichts halten“ und allenfalls die Partei der Abstandwahrer zu wählen: die PDS. Abklärung ist die Haltung der Enttäuschten, die sich zehn Jahre nach der Wende immer noch nicht behaust fühlen, deren Hoffnungen keinen Platz nirgends fanden. Abklärung ist nun auch in Gesamtdeutschland die Erfahrung, dass der Kapitalismus ungerecht ist, ausgrenzend, parlamentarisch kaum mehr beherrschbar, dass es jedoch keine Alternative mehr gibt. Aber Abklärung ist keine in Holzfässern gereifte Weisheit, sondern resignierte Illusionslosigkeit, sie mündet auch nicht in die Revolte, sondern in Passivität, Ressentiments und manisches Gartenzaunstreichen.

Politik wird igitt, Engagement erscheint sinnlos. Durch westliche Lande marschieren die Beerdigungstrupps, die nach dreißig Jahren Studentenrevolte, zwanzig Jahren grüner Partei und gerade mal einem Jahr rot-grüner Regierung nunmehr all ihre „Hoffnung auf Veränderung“ zu Grabe tragen. Man mag sich lustig machen über ihre überzogenen Erwartungen, ihr theatralisches Auftreten, ihre Staats- und Parteienfixiertheit. Aber das ändert nichts am Zustand des Objekts ihrer Trauer: die Veränderung der Grünen zu einer stinknormalen staatstragenden Partei, die mit ihren eigenen Traditionen – also Subversion, Frechheit, radikaler Öffentlichkeit, fröhlichem Ungehorsam – nicht mehr das Geringste zu tun haben will.

Solch eine zum FDP-Plagiat mutierte Partei vermag auch Jugendliche nicht mehr anzusprechen. Utopien können mörderisch werden, das hat dieses Jahrhundert gezeigt, aber die nackte Utopienlosigkeit ist auch ein trauriger Zustand voller Ödnis und Langeweile. Jugendliche zu einer Politik kleiner und kleinster Schritte zu zwingen, heißt ungestüme Tiger zu Kohlräupchen zähmen zu wollen. Der Mehltau, der sich in den letzten Jahren der Kohl-Regierung auf das Land legte, wurde durch den rot-grünen Wahlsieg nur kurzfristig aufgewirbelt, jetzt hängt er wieder überall.

Zehn Jahre nach der Wende ist die Dialektik der Abklärung nach einer großen geschichtlichen Schleife zu ihrem vorläufigen Ende gekommen. Gerade die Deutschen müssten doch eigentlich wissen, dass Geschichte niemals auf Dauer verdrängt werden kann, dass das Verdrängte, oft auch als Narrenfratze, wiederkehrt.

Den BewohnerInnen der ehemaligen DDR aber wurde zugemutet, vom Zahnbürstenmodell bis zur Rentenregelung ihr gesamtes Leben umzukrempeln und alles Vergangene zu vergessen. Während die Kohl-Regierung den Westdeutschen signalisierte, sie bräuchten sich nicht zu ändern, alles werde so herrlich bleiben, wie es sei, bürdete sie den Ostdeutschen die gesamte Last der überhasteten Vereinigung auf. Statt gesamtdeutsche runde Tische einzufordern, ein neues Grundgesetz, die Übernahme der besten Errungenschaften aus Ost und West, beteiligten sich die westdeutschen Medien geradezu genüsslich an jenem Spiel, die Ossis für minderbemittelt, dümmlich und autoritär zu erklären, für nicht ganz normal in der Birne, weil sie der westdeutschen Norm nicht entsprachen. Jetzt, zehn Jahre nach der Wende, ist das Wehgeschrei groß, dass das Land tiefer gespalten ist denn je, dass die für nicht normal Erklärten auch nicht normal wählen wollen, dass sie die Rolle der Differenzträger und Außenseiter angenommen haben und mit der penetranten PDS ihre Andersartigkeit auch noch herauszustellen wagen. Hierbei ist es nur ein kleiner gemeiner Nebenschauplatz, dass die Bündnisgrünen im Osten faktisch ausgelöscht wurden und die gesamte Partei ihrem Ende ins Auge schaut, sobald sie bundesweit die Fünfprozenthürde überspringen muss. Des Zonis raffinierte Rache, könnte man meinen: Wenn du mein Revier kaputthaust, zerstöre ich dir dein Machtgehege.

Diese Regierung hat in Windeseile Politikverdrossenheit verbreitet

Derzeit werden die Grünen und die Roten am meisten gebeutelt, aber genauer betrachtet gibt es in der Dialektik der Abklärung keine Sieger. Die PDS mag jetzt jubeln, doch die Klügeren unter den ParteistrategInnen wissen, dass es ihren Leuten an finanzierbaren Konzepten fehlt und Enttäuschungen unvermeidlich sein werden. Auch die CDU jubiliert, doch auf Dauer gesehen hat sie weder eine Mehrheit noch eine Strategie für den widerspenstigen Osten. In absoluten Zahlen gemessen gewann sie nur wenig WählerInnen hinzu, und mit den lachhaften Ergebnissen der FDP-Sekte bricht ihnen auch noch der Bündnispartner weg.

Zehn Jahre Dialektik der Abklärung haben zu einem Ausmaß an Politiküberdruss geführt, den die stolzen Germanen früher beim unregierbaren Italien so gerne geißelten. Wenn es so weiter geht, wird es mit den beiden Ländern bald umgekehrt sein.

Ute Scheub