Wir regieren ja nicht“

■ Ein Jahr Rot-Grün: FDP und Union ziehen Bilanz und entdecken die Pein der Machtlosigkeit

Berlin (taz) – Vor einem Jahr und einem Tag wäre es eine Sensation gewesen. Der FDP-Politiker Klaus Kinkel erklärte gestern, er befürworte einen EU-Beitritt der Türkei, der FDP-Chef Wolfgang Gerhardt verkündete das Gegenteil – das Land dürfe niemals in die EU gelassen werden, komme, was da wolle. Bis vor einem Jahr und einem Tag war Klaus Kinkel Außenminister und die FDP eine überaus wichtige Regierungspartei. Die Meinungsverschiedenheit über die Türkei hätte mit einiger Sicherheit eine außenpolitische Krise verursacht, auf jeden Fall hätte sie die politische Bühne in Deutschland beherrscht.

Jetzt spielt sich die Auseinandersetzung im schmalen und eher unscheinbaren Zimmer 112 der FDP-Fraktion vor einer Handvoll Journalisten ab, und selbst Klaus Kinkel gibt nicht vor, dass die Frage wirkliche Bedeutung hat: „Wir sind ja im Augenblick nicht in der Regierung.“

Ein Jahr nachdem am 27. Oktober Gerhard Schröder zum Bundeskanzler gewählt wurde, zogen gestern die neuen Oppositionsfraktionen FDP und CDU/CSU eine erste Bilanz. Bemerkenswert war daran weniger ihre Abrechnung mit der rot-grünen Regierung als vielmehr das stille Leiden, mit dem einst mächtige Männer die Machtlosigkeit erdulden. Als vormals Regierende scheinen sie sich keinen Illusionen hinzugeben, dass das öffentliche Interesse an der Opposition auch nur bescheiden ist. So hatte etwa CDU-Partei- und Fraktionschef Schäuble eine 20-seitige Auflistung rot-grüner Verfehlungen und Versäumnisse vorbereitet („9. Ein verlorenes Jahr für die deutsche Landwirtschaft“). Doch nicht einmal er selbst erweckte vor der Bundespressekonferenz den Eindruck, als erwarte er für seine Fleißarbeit eine breite Leserschaft. Er legte die Schrift unverlesen zur Seite, wer wollte, konnte ein Exemplar mitnehmen.

Pflichtschuldig geißelte Schäuble zwar die Regierung, doch näher am Herzen lag ihm die Konsequenz, die er aus der „vernichtenden Bilanz des ersten Jahres Rot-Grün“ zog: „Es kann nicht die nächsten drei Jahre so weitergehen.“ Nachdem die Union im Bundesrat wieder zu einer Größe geworden ist, möchte Schäuble den Seinen auch in der Opposition zumindest eine Teilhabe an der Macht sichern. Er wiederholte darum das Angebot an die Regierung, „in den zentralen Fragen der deutschen Politik uns zu verständigen“.

Ob er sich nicht albern vorkomme, wird Schäuble daraufhin gefragt, ein ums andere Mal die Zusammenarbeit anzubieten, ohne dass die Schröder-Truppe darauf eingehe? Habe seine Geduld denn nie ein Ende? Die Frage scheint ihn zu treffen, Schäuble kann ein Erröten nicht unterdrücken. „Das Ende der Geduld ist mit dem Ende der Legislaturperiode gleichzusetzen“, antwortet er ebenso gewunden wie tapfer. Er hätte auch sagen können: In der Politik ist alles besser als die Machtlosigkeit.

Patrik Schwarz