■  Verurteilt wegen Totschlags von Flüchtlingen. So ging vor zwei Jahren der Prozess gegen den letzten Staats- und Parteichef der DDR zu Ende. Doch Egon Krenz legte bei der „Siegerjustiz“ Berufung ein und versucht seine eigene Verantwortung herunterzuspielen
: Krenz, der Ankläger

Also abgemacht, Herr Bundeskanzler. Wenn Sie Probleme haben, greifen Sie zum Hörer ... und wir werden dann sicherlich Wege finden ...“

„Ich habe mit großem Interesse natürlich Ihre Reden gelesen, Herr Staatsratsvorsitzender, und ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass sich jetzt viele Hoffnungen an das alles knüpfen.“

Es ist genau 10 Jahre, 24 Stunden und 31 Minuten her, dass Helmut Kohl, der sich später gern als Einheitskanzler feiern ließ, zum Telefonhörer griff. Am anderen Ende: Ernst Rudi Egon Krenz, gerade neuer Machthaber im anderen Deutschland geworden. Gestern nun eröffnete der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofes in Leipzig exakt 10 Jahre, 24 Stunden und 16 Minuten nachdem Kohl den Hörer aufgelegt hatte, den Revisionsprozess in Sachen Krenz. Der heute 62-Jährige war nach einem fast zweijährigen Verhandlungsmarathon im August 1997 wegen Totschlags von „Republikflüchtlingen“ vom Landgericht Berlin zu sechseinhalb Jahren Knast verurteilt worden. Seine beiden Mitangeklagten Günter Schabowski (70) und Günther Kleiber (68) erhielten damals drei Jahre. Sowohl die Politbüro-Mitglieder, als auch die Staatsanwaltschaft Berlin hatten dagegen Revision eingelegt.

Natürlich durften rote Nelken nicht fehlen. Und auch sonst wurde so ziemlich jedes Klischee bedient: Die Wünsche zu „viel Kraft gegen die Siegerjustiz“ und ein Händedruck von den hartgesottenen Genossen, vergrämte Mienen und Spruchbänder mit „Wir wollen nicht Rache, sondern Gerechtigkeit“ bei den Opfern der führenden Rolle des Proletariats.

Als Krenz kurz vor neun den Verhandlungssaal betritt, prasselt ein Blitzlichtgewitter auf ihn nieder. Wie selbstverständlich setzt sich der letzte Staatsratsvorsitzende im Schwurgerichtssaal auf die linke Seite. Doch die ist hier, anders als Krenz das in Berlin gewohnt war, der Anklagebehörde vorbehalten. Eine Symbolik, die ihm gefallen dürfte. Krenz der Ankläger. Immer wieder hat er von einem politisch motivierten Prozess gesprochen, von der Siegerjustiz, und auch jetzt hält er den Richtern vor, dass man ihm den Prozess mache, da man es gegen Erich Honecker nicht mehr könne.

Konkret werden Krenz die vier letzten Mauertoten zur Last gelegt: Michael Horst Schmidt war im Dezember 1984, Michael Bittner zwei Jahre später im Dauerfeuer einer Kalaschnikow gestorben. Lutz Schmidt hatte seinen Freund im Februar 1987 schon über die Mauer gehievt, als ihn die Grenzer bemerkten. Der Freund versuchte noch, den sich festklammernden Schmidt nach drüben zu ziehen. Da wurde dieser getroffen. Und schließlich Chris Gueffroy, der den Wurfanker zum Überwinden des „antifaschistischen Schutzwalls“ schon geworfen hatte, als eine Kugel sein Herz durchschlug; vier von mindestens 825 Menschen, die an der innerdeutschen Grenze ihr Leben verloren.

Seit seinem Eintritt ins Politbüro 1984 sei Krenz, so die Anklage, mitverantwortlich: Das Zentrum der Macht habe die Beschlüsse zum menschenverachtenden Grenzregime getroffen. Weil das nach Lesart der Anklage für alle Politbüromitglieder zutrifft, müssen sich auch die anderen verantworten. Allein: Außer Kleiber, im Politbüro für Wirtschaftsfragen zuständig, und Schabowski, verantwortlich für die Informations- und Medienpolitik, ist niemand mehr übrig. Die anderen Mitglieder sind entweder so krank, dass sie nicht mehr verhandlungsfähig sind; oder sie sind gestorben. Weil Kleiber und Schabowski aber erst später ins Politbüro rückten, müssen sie sich nur wegen der drei letzten Mauertoten verantworten.

Roter Schlips, der Anzug so grau wie sein Haar. Das berüchtigte Egon-Lächeln gelingt ihm nur selten. Krenz verfolgt die Ausführungen der Verteidiger äußerlich nahezu emotionslos. „Ich werde mich wehren, solange ich kann; politisch und juristisch“, erklärte er dann. Er wolle sich nicht „zum Totschläger“ machen lassen. Obwohl sich die letzte Instanz des Strafverfahrens ausnahmslos Verfahrensfragen widmet, ließ es sich Krenz, der im Berliner Prozess monatelang durch Schweigen glänzte, als einziger Angeklagter nicht nehmen, persönlich in Leipzig zu erscheinen und eine Erklärung abzugeben. Allerdings ist die völlig unbedeutend für den Verfahrensausgang.

Doch Krenz ging es darum, noch einmal seine geringe Beteiligung an Entscheidungen von Sicherheitsfragen deutlich zu machen. Er sei nur ein, aber nicht der Sekretär für Sicherheitsfragen beim ZK der SED gewesen. Und auch Krenz-Verteidiger Robert Unger erklärte, sein Mandant habe nicht gegen DDR-Recht verstoßen. „Deshalb darf Krenz nicht verurteilt werden.“

Wenn das höchste deutsche Strafgericht seinen Fahrplan einhält, wird das endgültige Urteil am 8. November gefällt, 10 Jahre minus 24 Stunden und 28 Minuten nach dem Fall der Mauer. Möglicherweise beginnt für die Angeklagten dann eine lange Zeit hinter Mauern. Nick Reimer, Leipzig