Von der Kraft der Langsamkeit

■ Heute lesen die Gebrüder Precht aus „Das Schiff im Noor“

Als wir noch jünger waren, überfiel uns in diesen Tagen eine merkwürdige Unruhe. Noch zwei Monate bis Weihnachten, noch sieben Wochen, noch sechs. Nach Dänemark ging die Reise, in ein Holzhaus mit einem eisernen Kamin, in den Schlafräumen Doppelstockbetten. Dem Festtrubel zu entfliehen, dem Elternhaus, das man längst überwunden glaubte: ein Irrtum, bewiesen durch jene hilflosen Versuche, in der Wohngemeinschaft Weihnachten wie Sylvester ganz anders zu feiern. Da war das Abtauchen an den Ringköbing-Fjord, nach Odense oder auf die Insel Als eine wahre Alternative. Überhaupt die dänische Lebensart: das dunkle Weihnachtsbier, die fetten Pasteten. Und dann mit einer schlabberigen Polser an der Hafenmole stehen, sich auf das Abendessen freuen und anschließend lesen, lesen, lesen.

In einem solchen mit positiven Vorurteilen besetzten dänischen Idyll bewegt sich der Krimi Das Schiff im Noor, das fulminante Romandebüt der Brüder Georg und Richard Precht, die ausgerechnet aus der Karnevalshochburg Köln stammen. Die Geschichte geht so: Der junge Kriminalassistent Ansgar Jørgensen wird im Rahmen eines soziologischen Experiments einen Sommer lang aus dem trubeligen Kopenhagen auf die Ostseeinsel Lilleøversetzt. Gleich der erste Gang führt Jorgensen auf eine Beerdigung. Ein Schafhirte wurde tot aufgefunden. Diagnose: Herzstillstand. Jørgensen – ganz Fachmann – hat da so seine Zweifel, und die werden bestätigt, als sich ein anonymer Anrufer meldet. Doch dies ist nicht der einzige dunkle Fleck in der Geschichte Lilleøs, dem Jørgensen auf die Spur kommt. Einst strandete ein Schiff vor der Insel, ein weiteres Grab auf dem Friedhof weckt sein Interesse. Und nicht zuletzt hat ein früherer Inselpolizist ein Archiv angelegt, voll mit Hinweisen, Mutmaßungen und Theorien über Mord und Verbrechen.

Aber dieses Buch ist mehr als ein mit den Motiven der Schauergeschichte unterlegter Krimi. Es sind die kleinen, alltäglichen Gesten, mit denen Das Schiff im Noor gespickt ist, die eine ganz eigene Welt erschaffen, eine Welt der Ruhe, der Besinnung, des kreativen Rückzugs: wenn der Assistent beim Lesen einschläft, wenn er lange duscht, endlose Spaziergänge absolviert und sich so sein Außenseiterleben immer mehr dem Rhythmus der Insel anpasst. Mithin baut sich ein Roman auf, der von dem zeugt, was sonst nur als Klischee tauglich ist: der Kraft der Langsamkeit. Frank Keil

heute, 20 Uhr, Literaturhaus; Georg und Richard Precht: „Das Schiff im Noor“, Limes-Verlag, München 1999, 544 Seiten, 44 Mark