Zeichen des Körpers deuten

Anfassen erlaubt als Alternative zur Couch: Psychotherapeuten nutzen die Signale des Körpers, um verdrängten Gefühlen auf die Spur zu kommen  ■    Von Ulfried Geuter

Sigmund Freud missdeutete alle Wünsche der Patienten als sexuell und fürchtete Liebesgefühle

Locker sind ein paar Kissen auf dem Boden verstreut. In der Mitte eine Matratze, an der Wand eine Ecke mit zwei Sesseln – das Behandlungszimmer eines Körperpsychotherapeuten.

Hier wird nicht nur gesprochen, hier kann sich der Patient bewegen, körperlich darstellen, was er träumte, sich bei seinem Therapeuten festhalten, seine Wut auf ein Kissen schlagen oder einfach nur liegen und seinen Atem spüren.

Die Körperpsychotherapie ist heute eine Alternative zur Behandlung auf der Couch. Anders als die herkömmliche Psychotherapie verbindet sie die Arbeit mit der Seele und die Arbeit mit dem Körper.

Die Signale des Körpers können genutzt werden, um verdrängte Gefühle zu entschlüsseln. Das ist einer der Gründe, warum heute auch manche Psychoanalytiker dafür plädieren, den Körper in die Behandlung einzubeziehen.

Erfahrene Therapeuten wie Günter Heisterkamp aus Essen weisen darauf hin, dass in der Körperarbeit seelische Widerstände und Entwicklungsmöglichkeiten spürbar werden, sich Wahrnehmung und Verstehen vertiefen. Der Freiburger Psychoanalytiker Tilmann Moser meint, dass sich im Körperkontakt zwischen Patient und Therapeut kindliche Gefühle leichter wiederbeleben lassen als im distanzierten Gespräch der Psychoanalyse.

Wer sich anlehnen darf, spürt eher, wie sehr er Halt vermisste. Wer mit dem Therapeuten rangeln darf, merkt vielleicht eher, welche Wut in ihm steckt.

Körperpsychotherapie will die Botschaften des Körpers entziffern. Dadurch unterscheidet sie sich von reinen Körperverfahren wie Atemschulung oder Feldenkrais-Arbeit. Zwar helfen solche Methoden, sich besser zu fühlen. Aber sie beschränken sich auf den Körper, während bei der Körperpsychotherapie, wie bei jeder Psychotherapie, das Gespräch über das seelische Erleben im Mittelpunkt steht. Sie schreibt Körperausdruck, Bewegung oder Berührung nicht vor, sondern bietet sie als Möglichkeit neuer Erfahrungen an.

Die Sprache des Körpers kann zu den verdrängten Gefühlen zurückführen. Eine Frau zum Beispiel erzählt regungslos vom Tod ihrer Mutter. Ihre Stimme ist dabei flach. Aber sie legt, ganz unbewusst, die Hand auf ihre Brust. Der Therapeut könnte sie fragen, wie sich die Brust unter der Hand anfühlt, damit sie auch fühlen kann, was sie sagt, statt den Körper zu betäuben, um den Schmerz nicht zu spüren. Die Aufmerksamkeit für den Körper hilft, die eingekapselte Trauer zu lösen. Über die Arbeit mit dem Körper lassen sich verdrängte Gefühle erfahren, Beispiel Psychosomatik: Eingesperrte Gefühle führen zu körperlichen Symptomen. Das Herz beginnt zu rasen, weil die Angst in der Brust sitzt. Der Rükken schmerzt dem, der gebeugt durchs Leben geht.

Menschen, die solche Symptome bekommen, haben ihre Selbstwahrnehmung von ihrem Körper abgekoppelt. In fast allen psychosomatischen Kliniken gibt es daher mittlerweile Gruppen für „Konzentrative Bewegungstherapie“, in denen die Patienten lernen, wieder auf die Signale des Körpers zu horchen.

Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse, lehnte Körperkontakte mit Patienten ab. Der Therapeut sollte niemals Wünsche des Patienten befriedigen, ihn daher auch nicht berühren. Denn Freud missdeutete alle Wünsche als sexuell und fürchtete die Liebesgefühle der Patienten.

Doch bereits seine Schüler Sandor Ferenczi und Wilhelm Reich durchbrachen in den Zwanzigerjahren diese Regel. Ferenczi bot Patienten die Hand, wenn sie in der Analyse heftigen kindlichen Erschütterungen ausgesetzt waren. Reich ließ seine Patienten auf der Couch strampeln oder schreien oder massierte ihre verspannten Muskeln.

Reich schuf auch die Grundlagen der heutigen Körperpsychotherapie. Er hatte herausgefunden, dass der seelische Akt der Verdrängung von körperlicher Verkrampfung begleitet ist. Wenn Kinder gegen Gefühle ankämpfen, leisten sie Muskelarbeit: Sie halten den Atem an, pressen Brustkorb oder Bauch, stehen stocksteif da, machen den Mund nicht mehr auf – so lernen sie, ihre Wut-, Angst- oder Liebesregungen zu zügeln.

Tun sie das oft und auf eine charakteristische Art, bildet sich laut Reich ein „Charakterpanzer“, eine seelische und körperliche Abwehr gegen schmerzliche Gefühle, die einen Menschen prägt. Daher verband Reich das analytische Gespräch mit der Arbeit am Körper.

Ein zweiter Anstoß für die Körperpsychotherapie kam aus Reformgymnastik und Ausdruckstanz. In den Zwanzigerjahren schaffte die Berliner Gymnastiklehrerin Elsa Gindler in ihren Kursen vorgegebene Übungen ab. Jeder sollte auf seine Art aufmerksam dafür werden, wie er den Boden spürt, wie er geht oder atmet.

Mehr Bewusstheit im Körper war ihr Ziel. Einige zeitgenössische Analytiker wie Reich und Erich Fromm lernten von ihr. Später entwickelte sich aus ihrer Arbeit die „Konzentrative Bewegungstherapie“.

Zu einem Boom der Körperpsychotherapie kam es dann in den Siebziger- und Achtzigerjahren, in der Zeit der Selbsterfahrungsgruppen nach der Hippie- und Studentenbewegung. „Verliert den Kopf und kommt zu euren Sinnen“, rief Fritz Perls, der Begründer der „Gestalttherapie“, seinen Schülern zu. Der Körper, der im Zigarettendunst der Marx-Lektüre in Vergessenheit geraten war, sollte wieder gehört werden. Die Entfremdung, die zuvor in der Gesellschaft bekämpft worden war, sollte am eigenen Leib aufgehoben werden. Körperarbeit war Suche nach sich selbst.

Es gab viel zu entdecken. Und einige glaubten, im Körper endlich die Wahrheit zu finden, wenn sie nur genügend in ihn hineinhorchen. Sie bedachten dabei nicht, dass auch der Körper in die Irre führen kann, wenn Gefühle und Empfindungen nicht reflektiert werden.

Wer mit dem Therapeut rangeln darf, merkt vielleicht eher, welche Wut in ihm steckt

Heute ist die Zahl der Schulen mit ihren teils schillernden Namen kaum noch überschaubar: „Bioenergetik“, „Biodynamik“, „Core-Energetik“, „Unitive Psychotherapie“ oder „Biosynthese“, um nur einige zu nennen. Sie alle gehen auf Reich zurück. Die bekannteste ist die Bioenergetik seines Schülers Alexander Lowen.

Das Ziel der von Lowen entwikkelten Körperübungen ist, gestaute Energie wieder in Fluss zu bringen. Liegt der Patient zum Beispiel mit dem Rücken auf einer großen Rolle, wird der Brustkorb gedehnt, und die Atmung, die immer blockiert ist, wenn Gefühle zurückgehalten werden, vertieft sich. Die „Biodynamik“ wendet darüber hinaus Massagen an, um körperliche und seelische Blockaden aufzulösen.

Es ist nicht jedes Patienten Sache, sich seelischen Schwierigkeiten über den Körper zu nähern. Mancher hat sogar Angst vor Berührungen. Aber wem es liegt, der kann in einer Körperpsychotherapie vergessene innere Räume wiederentdecken – nicht zuletzt seine Lebensfreude.

Der Autor ist Dipl.-Psychologie und arbeitet als Wissenschaftsjournalist sowie Psychotherapeut in Berlin. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Spiegel-Verlags (special, 4/97).

Bei den Gesundheitstagen gibt es eine Einführung in die Bioenergetik, So. 14. 11., 14 bis 15.30 Uhr, und die Selbstwahrnehmung aus dem gestalttherapeutischen Kontext, Sa. 13. 11., 18 bis 19.30 Uhr