Lustige Tropen

„Weltmusik“ hat sich etabliert. Das Etikett sollte fremden Stilen den Weg in die Plattenläden des Westens ebnen. Hat sich der Anspruch erfüllt?  ■   Von Daniel Bax

In der Weltmusik spiegelt sich weniger die Welt als vielmehr der Westen mit seinen Bedürfnissen

Konfusion in Kasachstan. Kurz nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion reiste der britische Musikproduzent Joe Boyd in die zentralasiatische Kapitale Alma-Ata. Dort stand ein großes Musikfestival namens „Voice of Asia“ an, zur Feier der gerade erst erlangten Unabhängigkeit von Moskau und zur Förderung einer souveränen, regionalen Popkultur.

Die Veranstalter hatten Joe Boyd und andere ausländische Experten in die Jury berufen, wohl auch um Weltläufigkeit zu demonstrieren. Als die Jury jedoch nach der ersten Runde des Festivals ihre Favoriten bekannt gab, kam es fast zum Skandal: Ausgerechnet die prominentesten Musiker der Landes waren schon am Anfang ausgeschieden. Eiligst wurde eine Pressekonferenz einberaumt, auf der die Jury ihre Wahl rechtfertigte. Vor allem die westlichen Juroren konnten offenbar wenig anfangen mit dem billigen, oberflächlichen Disco-Pop vieler Interpreten, auch wenn er in bunten, folkloristischen Gewändern daherkam. Besser gefiel es den Musikrichtern, wenn sich die Bands aus dem reichen Fundus der örtlichen Traditionen bedienten und diese mit Rock- und anderen Elementen vermengten. Joe Boyd war verunsichert. „Waren wir dabei, dem kasachischen Publikum irgendwelche fremden Kriterien zu oktroyieren?“, fragte er sich. Doch als am Ende die usbekische Gruppe Kars, die mit traditionellen und elektrischen Instrumenten eigentümlichen Steppen-Rock darbot, den ersten Preis davontrug, da waren alle zufrieden. Das Publikum feierte voller Stolz die Sieger, und die Juroren hatten ihre Mission erfüllt.

Diese Anekdote weist viele Aspekte auf, die für das Aufkommen der so genannten Weltmusik typisch sind. Zunächst einmal die Renaissance des Lokalen, nicht nur im postsowjetischen Zentralasien im Zuge der Nationenbildung. Eine Wiederbesinnung auf lokale Traditionen zeigt sich vielmehr überall dort, wo die kulturelle Hegemonie einer zuvor bestimmenden Geschmackszentrale in Frage gestellt wurde und wird: ob im antikolonialen Kampf in Simbabwe oder bei der Selbstvergewisserung der Kurden in der Türkei – populäre Musik hatte und hat als Mittel im Widerstand gegen Unterdrückung und Assimilationsforderung stets eine integrative Funktion, in ihr manifestiert sich der Behauptungswille einer Minderheit. Auch in der westlichen Welt ist dieses Phänomen nicht fremd, wie die Selbstfindung der Samen in Skandinavien zeigt oder die Keltentümelei der Iren, Bretonen und Nordspanier (siehe auch nächste Seite).

Der Rückgriff auf lokale Traditionen ist dabei nicht zwangsläufig ein Ausdruck konservativer Gesinnung, im Gegenteil: Anders als in Deutschland, ist Volksmusik in vielen Ecken der Welt ein dezidiert „linkes“ Projekt, ihre Pflege war oft eine Reaktion auf die Gleichschaltungsversuche eines diktatorischen Regimes. „Zum Erfolg der ,Weltmusik‘ gehört dieses seltsame Prestige als 'Kultur von unten‘“, schreibt der US-amerikanische Pop-Theoretiker George Lipsitz in seinem Buch „Dangerous Crossroads“ (Deutsche Ausgabe bei Hannibal Verlag, 1999). Das Hören solcher Musik könne daher „mehr als bloße Zerstreuung und Ablenkung“ sein, ja trotz aller Vorbehalte hinsichtlich der Vermarktungsweise „geradezu eine subversive Praxis“. Und warum auch nicht?

Seit sich der Begriff „Weltmusik“ eingebürgert hat – also seit ungefähr zwölf Jahren –, hat das Lokale in der Musik zusätzliches Gewicht gewonnen. Der Begriff wurde von seinen Erfindern ursprünglich erdacht, um unter dieser Flagge fremde Musikstile aus der Peripherie in die Plattengeschäfte der westlichen Industrienationen zu schmuggeln. Blickt man auf den Kuba-Hype in diesem Sommer, dann war die Aktion ein Erfolg. Tatsächlich hat sich das Etikett „Weltmusik“ bewährt, als Türöffner vor allem für solche Künstler, die sich auf ein außereuropäisches Musikerbe beziehen.

Aber ist uns die Welt damit näher gerückt? Das Intermezzo in Alma-Ata beleuchtet auch, wie sich die Ansprüche westlicher Musikliebhaber mit der Wirklichkeit stoßen können. Die Wirklichkeit ist: was man in Alma-Ata für modern hält, kann auf westliche Beobachter wie eine schlechte Kopie universaler Standardmuster wirken. Und was Ausländern gefällt, darüber wundern sich wiederum oft die Einheimischen. „Weltmusik“ ist der Kompromiss aus diesen beiden Positionen, der kleinste gemeinsame Nenner.

Christoph Borkwosky, WOMEX-Organisator und Chef der Berliner Plattenfirma Piranha, möchte den Begriff „Weltmusik“ gerne „im Sinne von Weltliteratur verstanden wissen“ – also als Auslese der bedeutendsten und besten musikalischen Produktionen aus aller Welt. Doch die Realität in den Regalen der Plattenläden stellt sich profaner dar. Denn in der „Weltmusik“ spiegelt sich weniger die Welt als vielmehr der Westen mit all seinen Bedürfnissen, Wünschen und Projektionen.

Ähnlich wie Joe Boyd und seine Kollegen in Alma-Ata, so verhalten sich auch die Weltmusik-käufer im Plattenladen. Auf der Suche nach dem etwas Anderen hofft man, an der Peripherie fündig zu werden. Von Künstlern aus den Randgebieten der Musikwelt wünscht man sich eine Alternative zum Altbekannten, gefragt ist der kleine Unterschied. Der Boom alter kubanischer Musik, die durch den Erfolg des „Buena Vista Social Club“ neuerdings einen späten zweiten Frühling erlebt, ist exemplarisch. Plötzlich interessiert sich alle Welt für ein paar kubanische Opas, die in ihrer Heimat selbst fast vergessen waren. Und die jungen Kubaner, die lieber Salsa-Rap oder HipHop hören, wundern sich um den Wirbel, der um diese in ihren Ohren altmodische Musik gemacht wird.

Ähnlich verhält es sich mit der Begeisterung für die Brassbands des Balkans, die durch Filme wie „Time of the Gypsies“ und „Underground“ salonfähig wurden. „Jahrzentelang galt die Volksmusik des Balkans als gerade noch gut genug für die niedrigsten und ungebildetsten Schichten des Balkans: Wanderarbeiter, Lkw-Fahrer und Soldaten. Rockfans hassten diese Musik, und Weltmusikhörer in Belgrad, Wien oder Berlin zogen ein King-Sunny-Ade-Konzert der Musik aus den Balkan-Tavernen ihrer unmittelbaren Nachbarschaft allemal vor“, schreibt der Musikologe Peter Barbaric im Katalog zur diesjährigen WOMEX. Erst dem Filmkomponisten Goran Bregovic gelang es, „schmutzige, alte Balkan-Weisen aufzupolieren und einem westlichen Publikum als glitzernde und gediegene Weltmusikprodukte zu verkaufen“. So kann es kommen.

Ob Joe Boyd, Ry Cooder oder Goran Bregovic, David Byrne oder Peter Gabriel – stellvertretend für ein westliches Publikum haben sie sich als Jäger der verlorenen Klänge hervorgetan. Ihre Pionierarbeit ist ehrenwert und gar nicht hoch genug einzuschätzen. Sie haben wesentlich dazu beigetragen zu definieren, was Weltmusik ist – ein bestimmter Ausschnitt der weltweiten Musikproduktion eben. Man darf allerdings den Einfluss nicht unterschätzen, den die Erfolgsgeschichten solcher Goldschürfer auf die Musikentwicklung in entfernten Ecken des Globus haben. Nur weil das im Westen gut an kommt, haben kubanische HipHop-Gruppen begonnen, die Musik ihrer Großväter zu sampeln – von selbst wären sie nie darauf gekommen. Wahrscheinlich ist es nur eine Frage der Zeit, wann die erste Schweizer HipHop-Gruppe zu Kuhglocken und Alphörnern greift, um auf sich aufmerksam zu machen. So wird Fremdheit fabriziert. Bis heute ist „Weltmusik“ ein schillerndes Segment geblieben, stilistisch schwer zu greifen. Häufig bedient sie das Bedürfnis nach leicht verständlicher Exotik: Fremd, aber nicht zu fremd bitte.

Eine Gemischtwarenhandlung, in der sich anspruchsvolles Handwerk neben berechnendem Ethno-Fastfood in der gleichen Schublade findet und Hardcore-Traditionalisten sich das Fach mit gewagten Fusionsversuchen teilen. Letztlich ist Weltmusik eine ökonomische Kategorie: Weltmusik ist das, was als solche im Plattenladen steht. Was nicht dort steht, ist folglich keine Weltmusik. Und da bleibt noch ein großer Rest übrig.

Nimmt man den ursprünglichen Anspruch als Maßstab, dann ist das „Weltmusik“-Konzept zu einem guten Teil gescheitert. Denn „Weltmusik“ ist kein Einfalltor, sondern bestenfalls ein Nadelöhr für Musikstile aus aller Welt. Vor allem Musikern aus Afrika und Lateinamerika kam der Terminus zugute, während Asien im Großen und Ganzen ein weißer Fleck auf der Landkarte geblieben ist. Zu fremd darf „Weltmusik“ eben nicht klingen und auch nicht zu vulgär. Urban-moderne Stile wie südafrikanischer Kwaito-House, türkische Arabesk-Schnulzen, indischer Hindi-Pop und chinesische Karaoke-Schlager bleiben deswegen außen vor.

Es ist wohl kein Zufall, dass gerade die aktuelle Musik aus industrialisierten Schwellenländern wie Mexiko, Südafrika, Indien, China oder Indonesien nur selten im „Weltmusik“-Verzeichnis auftaucht – ihr kommerzialisierter Klang widerspricht wohl zu sehr dem westlichen Idealbild, das die fremden Klanglandschaften gerne als unberührte Inseln der Seligen sehen möchte: lustige Tropen. Die Welt der Weltmusik ist ein sehr sicherer, sauberer und idyllischer Ort – weswegen Menschen, die den Auslandsteil ihrer Zeitungen verfolgen, dem Ganzen mit gewissem Misstrauen begegnen.

Andererseits, andererseits: ohne das verkaufsfördernde Prädikat „Weltmusik“ hätten es viele nichtwestliche Musiker gar nicht erst auf die renommiertesten Konzertbühnen und in die großen Plattenläden von London, Paris, New York oder Tokio geschafft. Und im Scheitern steckt schließlich auch eine Chance. Denn noch der banalste Ethno-Remix vermittelt schließlich einen kleinen Eindruck davon, dass da draußen, jenseits aller Weltmusik, noch ganz andere Welten existieren. Diese Ambivalenz gilt es auszuhalten.