Von Kopf bis Fuß verkauft

Von der Demokratie enttäuscht, ständig im Kampf ums Überleben, wählen die Ukrainer am Sonntag einen Präsidenten. Dass die Wahl einen Sinn hat, glaubt keiner  ■   Aus Kiew Barbara Kerneck

Wenn sich die Politiker erst einmal zur Futterkrippe durchgekämpft haben, vergessen sie uns hier sowieso

Ich neige von Natur aus nicht dazu, mit den Umständen zu hadern“, sagt Larissa Iwschina: „aber unser Volk hat schon allen Grund, deprimiert zu sein.“ Iwschina (39) ist seit drei Jahren Chefredakteurin der Kiewer Tageszeitung Den. Sie blickt aus einem glatten Gesicht und blanken Augen optimistisch über den Rand ihres Schreibtisches: „Ich glaube noch immer, dass Jewgeni Martschuk Chancen hat, in die zweite Wahlrunde zu kommen“, sagt sie. Die Zeitung Den verbirgt nicht, dass sie sich als Presseorgan des Präsidentschaftskandidaten Martschuk versteht. Er ist ehemaliger Geheimdienstgeneral mit liberalem Image, der heute von einigen gestandenen Ex-SowjetdissidentInnen unterstützt wird. Kiewer Intellektuelle bezeichnen den Den als „die einzige vernünftige Zeitung in der Stadt“.

Die Umstände, welche Iwschina ihrer Redaktion geschaffen hat, geben keinen Anlass zum Hadern. Die Räume sind frisch renoviert, hell, freundlich und funktional eingerichtet. Die Zeitung residiert in einem mehrstöckigen Gebäude auf dem so genannten Obolon-Massiv am Rande der Stadt, jenseits des Flusshafens am Dnjepr.

In den 80er-Jahren war dies eine Vorzeige-Schlafvorstadt. Heute befinden sich die meisten Häuser hier in einem tristen Verwitterungsstadium. Auf die Wand eines Gebäudes in der Nachbarschaft hat jemand geschrieben: „Wählt ukrainisch!“ Was heißt „ukrainisch wählen?“

In den vier Jahren der ersten Amtszeit des gegenwärtigen Präsidenten Leonid Kutschma ist die Infrastruktur des Landes endgültig auf dem Hund gekommen. Die Fabriken stehen still, die Bergleute aus dem Donezk-Becken planen ständig einen „Marsch auf Kiew“. Lehrer, Ärzte und Wissenschaftler verdienen als Fußvolk des öffentlichen Dienstes nicht genug, um davon zu leben, und gehen irgendwelchen Nebenbeschäftigungen in der Schattenwirtschaft nach. 80 Prozent aller BürgerInnen halten die Korruption für das Hauptproblem des Landes. Auf der Weltrangliste der korruptesten Länder, die die Organisation „Transparency International“ jährlich veröffentlicht, firmiert die Ukraine gleich neben Bolivien und Pakistan.

Die Chefredakteurin wendet sich den politischen Gründen für die Depressionen der ukrainischen BürgerInnen zu: „Bei seinen Wahlreisen fährt Präsident Kutschma immer mit dem Innenminister in einem Bus. Dies ist kein Zufall. Die Reichtümer des Landes haben sich einige dem Präsidenten nahestehende Familien aufgeteilt. Damit es ihnen weiter so gut geht, hängen sie von der Unterstützung der Polizei, der Geheimdienste und der Militärs ab. Unter Kutschma wurden die demokratischen Prozesse in unserem Land zielstrebig umgekippt. Dies äußert sich vor allem in einem kolossalen Druck auf die Presse. In den letzten Monaten fielen mehrere störrische Journalisten Auftragsmorden zum Opfer. Gleichzeitig sind die Erwartungen, die die Menschen bei uns mit der Demokratie verbanden, drastisch gesunken. Die Leute sind heute mit ihrem Überleben auf dem Basar beschäftigt.“

Der Weg zum Redaktionsgebäude von der Metrostation Obolon führt über einen kleinen Freiluftmarkt. Mehr noch als mit Lebensmitteln wird hier mit allerhand Dingen des täglichen Bedfarfs gehandelt: mit Zigaretten, Schokolade und Getränken, Kakerlakenfallen, Hamstern, Büstenhaltern und jungen Katzen. Unweit des Metro-Einganges, hat ein Mann mit Spitzelgesicht eine mit Agitationsmaterial beklebte Pappsäule aufgestellt. Er verteilt Flugblätter für Aleksandr Moros, den Vorsitzenden einer sich sozialdemokratisch gebärdenden Partei.

Moros gehörte bis zum Anfang dieser Woche mit Jewgeni Martschuk zu jener Gruppe von vier Präsidentschaftskandidaten, die man hier das „Kanewer Quartett“ nennt. Um eine Widerwahl Kutschmas zu verhindern, hatten sie am Grabe des Nationaldichters Taras Schewtschenko in der Stadt Kanew geschworen, dass drei von ihnen ihre Kandidaturen kurz vor der Wahl zugunsten des Vierten zurückziehen sollten, der sich als der Populärste erwiese. Am Dienstag ist das „Quartett“ geplatzt. Nicht zuletzt deshalb, weil sich Martschuk und Moros nicht einigen konnten, wer von ihnen der stärkere Kandidat sei.

Wenn man der Stimmung trauen darf, hatte der Sozialdemokrat Moros Grund, an seiner Kandidatur festzuhalten. Denn unter den KäuferInnen auf diesem Markt kann er auf viele Fans zählen.

Aleksandr Moros wäre tatsächlich ein Segen für das Land“, verkündet enthusiastisch ein Mann namens Oleg. Er bezeichnet sich als studierten Soziologen, gegenwärtig Verkäufer von Addidas-Schuhen in einem Geschäft im Zentrum. „Moros“, sagt er, „ist bei uns unter allen Präsidentschaftskandidaten der einzige eingefleischte Demokrat. Er hat begriffen, dass man auf Dauer nicht von oben regieren kann, sondern dazu die Rückkoppelung aus dem Volk braucht.“ „Moros ist eine ehrliche Haut“, bestätigt eine Babuschka im geblümten Kopftuch: „Er hat eine ganz einfache Datscha, das kann meine Nichte bestätigen, die wohnt nebenan.“ „Ja, er hat ein gutes Herz“, bestätigt eine Frau um die 50 in einem altrosa Anorak mit verletzlichen grünen Augen hinter einer dicken Krankenkassenbrille: „Aber ich fürchte, er hat einen schwachen Charakter.“

Überraschenderweise finden sich hier keine BewürworterInnen der linksradikalen, schrillen Kandidatin Natalia Witrenko mit ihrem dezidiert antiwestlichen Vokabular. Das Volk wünscht sich keine PräsidentInnen, die sind, wie es selbst. Es wünscht sich PolitikerInnen, die über ihm stehen. „Ein Präsident muss immer diplomatisch sein und sich gut benehmen – erklärt die Babuschka und er darf nicht, wie die Witrenko, mit groben Schimpfwörtern die Jounalisten verjagen“.

Keineswegs alle sind hier AnhängerInnen ein und desselben Präsidentschaftsanwärters. Ein älterer Herr in solidem grauem Fischgräten-Wollmantel outet sich als Anhänger des kommunistischen Kandidaten Symonenko. Von Beruf ist er Taxifahrer. Sein Hauptargument: Unter den Kommunisten herrschten bessere Bedingungen für das Taxifahren.

Tuch- oder Wollmäntel sind auf diesem Markt übrigens eine Seltenheit. Das Volk auf dem Obolon-Massiv trägt Anoraks oder Lederjacken, dazu Pudel- oder Schiebermützen. Die Kleidung spricht für eine mobile Lebensweise. Man ist hier von früh bis spät auf dem Sprung, um irgendwo etwas schwarz dazuzuverdienen oder ein günstiges Angebot zu erhaschen.

Die Dame im altrosa Anorak klagt inzwischen einer Jüngeren ihr Schicksal: „Ich bin jetzt 53, also zwei noch Jahre vor dem Pensionsalter für uns Frauen. Aber dieses Frühjahr haben sie mich in meiner Bank einfach weggekürzt. Jetzt bin ich zwangspensioniert und soll von 80 Griwna (32 Mark) im Monat leben.“ Das Durchschnittsgehalt in Kiew beträgt 250 Griwna. Ein Kilo der luftgetrockneten ukrainischen Wurst kostet 16 Griwna, ein Brot (350g ) eine Griwna, ein Kilo Haferflocken oder Buchweizengrütze 0,75 Griwna und eine Flasche Wodka, um sich über die Preise zu trösten: 6,60 Griwna.

Die „gekürzte Dame“ ist alleinstehend. Auf die Frage, wie sie es schaffe, zu überleben, brechen die günen Augen in Tränen aus: „Ich lebe gar nicht. Ich überlege mir jeden Abend, ob ich mich lieber aufhängen soll oder vergiften“.

Im übrigen baut man hier keine harten Fronten auf . „Ich könnte mir durchaus eine Koalition zwischen Symonenko und Moros vorstellen“, sagt der Kommunist. Die Meinung aller lässt sich auf einen Nenner bringen: Kutschma muss weg! Aber unsere Wahlstimmen helfen sowieso nichts, weil das Ergebnis ohnehin gefälscht wird: „Wir sind schon im vornherein von Kopf bis Fuß verkauft!“. „Wenn Kutschma wieder an die Macht kommt, müssen wir eben zu den Gewehren greifen!“, schlägt der linke Taxifahrer pragmatisch vor. Und die Dame im rosa Anorak flüstert vorsichtig: „Es heißt, Kutschma besucht eine Kolchose nur, wenn sich dort 200 Personen mit ihrer Unterschrift für seine Kandidatur verbürgen. Wenn sie es nicht tun, droht er ihnen.“ Ukrainisch wählen, heißt: unter Furcht und Druck von oben wählen. Es heißt wählen, ohne zu glauben, dass die Wahl einen Sinn hat.

Das Lager der HändlerInnen gibt sich zugeknöpfter. Hier stehen Leute um die fünfzig. Sie sind die gewitztesten ihrer Generation. Hier stehen alle, die es sich nicht gefallen lassen, dass die Betriebe und die Regierung sie abgeschrieben und pensioniert haben.

Jeder, der hier steht, hat automatisch drei oder vier weitere Personen zu versorgen: Invaliden aus der Verwandtschaft, Eltern, Kinder und Enkel. Dabei fühlen sich die HändlerInnen durch die Bank keineswgs alt: „Guckt euch die an“, sagte eine von ihnen und deutet auf ein gut erhaltenes, blondgefärbtes Frauenzimmer hinter einer Kiste mit Regenschirmen: „Die gehört nicht auf den Basar, sondern in eine Model-Agentur.“

Die offizielle Version der HändlerInnen lautet: Wir haben uns noch für keinen entschieden, denn alle Kandidaten sind gleich korrupt. „Wenn die sich zur Futterkrippe durchgekämpft haben, vergessen sie uns“, erklärt eine vitale Büstenhalter-Verkäuferin: „Ich wenigstens helfe den Mädels hier, Haltung zu bewahren!“

Eine Frau mti strahlenden Augen bietet daneben Strumpfhosen feil: „Ich weiß, dass meine Kinder es einmal besser haben werden“, sagt sie. Mein 18-jähriger Sohn hat ein Studium als Bauingenieur angefangen. Wenn er fertig ist, wird er zu unseren Verwandten nach Kanada ziehen. Meine Tochter geht auf eine Spezialschule, an der man das deutsche Abitur machen kann. Die Zukunft in Deutschland ist ihr so gut wie sicher.

Die wilden Basare füllen in Kiew viele kleine Straßen und die unterirdischen Metro-Übergänge. So sah es in Moskau Anfang der 90er Jahre auch aus. Dann traten an die Stelle der HändlerInnen mit Bauchläden und hinter Tapezier-Tischen moderne, poppige Kioske. „Hier wird es nicht dazu kommen, weil wir keine Gesetze haben, die effektiv den Handel regeln“, erklärt ein Zigarettenhändler: „Heute stehen wir hier, morgen hat uns die Polizei verjagt, übermorgen stehen wir wieder. Und dann fällt vielleicht ein so schwerer Regen, dass wir alle endgültig auseinanderlaufen.“

Nach längerer Hinhören gestehen fast alle im Händlerlager verschämt ein, dass sie letztlich wohl doch Kutschma wählen werden. „Der hat schon genug zusammengeklaut, die anderen müssten sich erst noch sattstehlen“, lautet die Begründung. Doch in Wirklichkeit stehen andere Überlegungen hinter dieser Entscheidung: „Kutschma hat gesagt: Rührt mir die Weiber und Großmütter an den Straßenrändern nicht an. Die anderen Kandidaten versprechen Ordnung auf dem Markt zu schaffen. Dabei wird für uns wohl kein Platz mehr hier sein.“

Auch dies heißt ukrainisch wählen: den Spatz in der Hand vor der Taube auf dem Dach wählen. Den wilden Basar wählen aus Angst vor dem zivilisierten Markt. Gegen das Morgen stimmen, um heute zu überleben. Weil man morgen vielleicht eh nicht mehr lebt. Und weil die Kinder sich ohnehin schon gegen ein Leben in der Ukraine entschieden haben.

„Eine neue Welle der Emigration hat bei uns schon begonnen. Die Kommunisten sind wahrscheinlich genauso eine Scheinalternative zu Kutschma wie Natalia Witrenko“, sagt Larissa Iwschina in ihrer Redaktion: „Ich kann mir sehr gut einen wiedergewählten Präsidenten Kutschma mit einer kommunistischen Regierung an seiner Seite vorstellen. Mich tröstet es, dass er bisher seinen Hauptwahlkampf gegen das sozialdemokratische und zentristische Lager führen musste. Weder mit Kutschma noch mit den Linken sehe ich langfristig eine Chance für dieses Land. Die Ukraine täte besser daran, bei dieser Wahl auf beide zu verzichten. Ansonsten kommt die bulgarische Entwicklung auf uns zu.“ Der nächste Besucher tritt ein. Ein Herr mittleren Alters. Er berichtet, er habe letzte Nacht von einer gewaltigen Demonstration auf dem Kreschtschatik, Kiews Flanierboulevard, geträumt. „Merkwürdig“, sagt Frau Iwschina: „Merkwürdig, dass nur Sie diesen Traum haben.“